Robin starrte den Tuareg noch einen weiteren kostbaren Moment lang entsetzt an, dann gewann ihre Vernunft endlich die Oberhand. Hastig löste sie den Waffengurt, streifte das Gewand über den Kopf und schlüpfte schließlich, mit sehr viel weniger Geschick, aber dafür mit Salims Hilfe, aus dem schweren Kettenhemd. Sie atmete erleichtert auf, als der bleischwere Panzerrock mit einem Platschen neben ihr im Wasser versank.
»Schnell jetzt!«, sagte Salim. »Wir müssen hier raus!«
Damit hatte er zweifellos Recht. Die Sankt Christophorus hatte mittlerweile eine so starke Schlagseite, dass Robin mit gespreizten Beinen dastehen musste, um überhaupt noch die Balance zu halten. Das Wasser reichte ihr jetzt bis weit über die Knie. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. »Die Pferde«, sagte sie. »Sie werden ertrinken!«
»Ich weiß«, antwortete Salim düster, »aber das ist...«
»Shalima und Wirbelwind«, unterbrach ihn Robin. Sie schüttelte energisch den Kopf. »Sie sind auch hier. Ich gehe nicht ohne sie.«
Einen Moment lang glaubte sie, Wut in Salims Augen zu entdecken, doch dann wich der aufflackernde Zorn einem anderen, unbekannten Ausdruck. Es hätte sie nicht überrascht, hätte Salim sie in diesem Moment geschlagen. Dann schloss der Tuareg einfach nur die Augen und seufzte tief.
»Also gut«, sagte er resignierend. »Ich versuche, sie loszubinden. Mehr kann ich nicht tun. Vielleicht schaffen sie es ja ins Freie, wenn das Schiff entzweibricht.«
Vielleicht aber auch nicht, dachte Robin. Aber sie widersprach nicht. Mehr als dieses Zugeständnis würde sie von Salim nicht bekommen, und sie machte sich voller schlechtem Gewissen klar, dass das, was sie von ihrem Freund verlangte, lebensgefährlich war. Die Pferde waren vollkommen in Panik. Es war nicht ratsam, sich ihnen zu nähern, wollte man nicht zu Tode getrampelt werden.
»Raus jetzt!«, befahl Salim. Er machte eine Geste zur Tür. »Aber geh nicht an Deck! Warte auf mich!«
Robin zögerte. Ihre eigenen Worte taten ihr bereits wieder Leid. Sie hatte kein Recht, sein Leben aufs Spiel zu setzen, nur um das eines Pferdes zu retten, ganz egal, wie sehr sie an dem Tier hing. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, drehte Salim sich um und verschwand mit raschen Schritten. Robin blickte ihm einen Moment lang unentschlossen nach, dann hob sie ihren Wappenrock auf und streifte ihn über. Sie konnte sich schließlich nicht entblößt an Deck blicken lassen, ebenso wenig wie sie unbekleidet zur Sankt Gabriel hinüberschwimmen konnte, um an Deck des Schiffes zu klettern und Horace um ein neues Gewand für Bruder Robin zu bitten.
Ohne zu zögern wandte sie sich zur Tür, wobei sie einen großen Bogen um den Körper des erschlagenen Sarazenen machte, der dort kopflos in der hereinschäumenden Flut trieb. Sein Fuß hatte sich irgendwo verhakt, und seine Arme pendelten in der Strömung. Es sah aus, als versuchte er, unbeholfene Schwimmbewegungen zu machen; oder als wollte er nach ihr greifen.
Draußen fand sie noch mehr Tote, die sie zuvor nicht bemerkt hatte. Zumeist waren es Sarazenen, aber auch etliche Ritter waren darunter, die von ihren Feinden hier heruntergetrieben worden waren oder sie verfolgt hatten, um selbst den Tod zu finden.
Dem Lärm über ihrem Kopf nach zu schließen hielt die Schlacht noch immer mit unveränderter Wucht an. Die klaffende Bresche im Rumpf der Sankt Christophorus war weiter aufgebrochen, und das Wasser strömte mit solcher Wucht herein, dass Robin all ihre Kraft aufbieten musste, um dagegen anzukämpfen. Mühsam watete sie zu der gewaltigen Wunde im Rumpf des Schiffes, klammerte sich irgendwo fest und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Wo blieb Salim?
Sie fand weder eine Antwort auf diese Frage, noch hatte sie den Mut, zurückzugehen und nach ihm zu suchen. Stattdessen versuchte sie, einen Blick auf das Meer hinaus zu werfen, bedauerte diesen Entschluss im nächsten Moment wieder. Der Nebel hatte sich immer noch nicht gelichtet, sondern schien im Gegenteil noch dichter geworden zu sein, so als verberge die Sonne ihr Antlitz, um nicht mit ansehen zu müssen, was Menschen unter ihrem Licht einander antaten. Nur undeutlich machte sie reglose Körper aus, zerfetzte Kleidungsstücke und Trümmer verschiedenster Art, die in der See trieben.
Von der Sankt Gabriel war keine Spur zu entdecken. Wenn die Schiffe ihre Position zueinander einigermaßen beibehalten hatten, dann befand sie sich auf der anderen Seite, mindestens zwei- oder dreihundert Meter entfernt. Robin war nicht sicher, ob sie diese Distanz schwimmend zurücklegen konnte. Sie war nie eine gute Schwimmerin gewesen, und noch dazu war sie vollkommen erschöpft. Sie würde auf Salim warten, um sich zusammen mit ihm auf den Weg zu machen.
Doch es sollte noch lange dauern, bis sie ihn wiedersah.
Robin gewahrte eine Bewegung aus den Augenwinkeln und drehte sich um, weil sie dachte, Salim käme vielleicht aus einer anderen Richtung, als sie es erwartet hatte. Stattdessen blickte sie in ein bärtiges Gesicht mit Augen voller Hass und sie sah das Metall eines Krummdolches aufblitzen, der nach ihrer Kehle zielte. Unwillkürlich riss sie die Arme hoch und machte einen Schritt zurück. Sie entging dem Dolchstoß, aber verlor das Gleichgewicht, fiel nach hinten und prallte mit Hinterkopf und Nacken gegen steinhartes Holz.
Dann stürzte sie weiter nach hinten und hinab in eine schier endlose Tiefe. Sie verlor das Bewusstsein, noch bevor sie ins Wasser fiel und wie ein Stein sank.
4. KAPITEL
Sie war nicht ertrunken, das schloss sie allein aus der Tatsache, dass sie diesen Gedanken denken konnte, als sie das nächste Mal die Augen aufschlug. Und sie befand sich auch nicht mehr auf einem Schiff, denn der Boden, auf dem sie lag, bewegte sich nicht, und es war wunderbar warm und trocken. Das war aber auch schon alles, was sie über sich selbst und ihre Situation wusste.
Robin blinzelte in das sonderbar bräunliche Licht, das sie umgab, schloss die Augen wieder und versuchte sich zu erinnern. Aber die Serie von Bildern in ihrem Kopf hörte mit dem auf sie zusausenden Krummdolch auf, irgendeinen Sinn zu ergeben. Danach folgte keine wirkliche Schwärze, aber ein solches Durcheinander von Gefühlen und aufblitzenden Visionen, dass ihr wirkliches Vergessen beinahe lieber gewesen wäre. Sie musste wieder zu sich gekommen sein, nachdem sie aus dem Schiff gestürzt war, vielleicht durch die Kälte des Wassers oder die Atemnot oder auch beides geweckt. Doch der Funke von Bewusstsein, der sie vor dem Ertrinken bewahrt hatte, war nicht hell genug aufgelodert, als dass sie sich hätte klar an die Zeit danach erinnern können. Instinktiv hatte sie Schwimmbewegungen gemacht, um sich an die Wasseroberfläche zu kämpfen, und sich danach an dem erstbesten Gegenstand festgeklammert, den ihre Hände fanden. Vielleicht ein Trümmerstück, vielleicht auch eine Leiche, von denen Dutzende im Wasser trieben. Alles, was sie noch wusste, war, dass Zeit vergangen war, sehr viel Zeit, in der sie ein paar Mal das Bewusstsein verloren und endlose Ewigkeiten in dem schmalen Zwischenreich zwischen Schlaf und Wachsein verbracht hatte. Irgendwann waren da Stimmen, aufgeregte Rufe und Hände, die nach ihr griffen und sie aus dem Wasser zogen; wer, warum und wohin, vermochte sie nicht zu sagen.
Dennoch war Robin mit dem Ergebnis ihrer Überlegungen zufrieden. Sie war nicht tot und im Himmelreich, sondern höchst lebendig und anscheinend nicht einmal schwer verletzt. Jemand hatte sie aus dem Wasser gezogen und hierher gebracht, und auch wenn sie nicht wusste, wo dieses hier war - es befand sich an Land, und das war im Moment das Allerwichtigste. Nie wieder würde sie ein Schiff betreten, das schwor sie sich, und wenn sie zu Fuß zurück in die Heimat marschieren musste!
Robin lauschte noch einen Moment lang in sich hinein, konnte aber weder einen Quell größerer Schmerzen noch ein anderes Zeichen lokalisieren, das ihr Anlass zur Besorgnis hätte geben können. So schlug sie die Augen erneut auf und musterte neugierig ihre Umgebung.