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Auch Robin verlor schon nach einem Augenblick jedes Gefühl der Peinlichkeit. Es waren mehr als zwei Jahre vergangen, seit sie sich das letzte Mal nackt vor anderen Frauen gezeigt hatte. Ihr Körper war noch immer schlank und mädchenhaft, ihre Brüste kaum gereift. Salim hatte oft gespottet, dass eine Frau, die unbedingt das Kriegshandwerk der Männer erlernen wollte, keinen weiblichen Körper entwickeln konnte.

Saila und ihre Mutter schienen sich darüber keine Gedanken zu machen. Vielleicht hielten sie sie ja auch für jünger, als sie tatsächlich war. Stattdessen musterten sie mit erschrockenen Gesichtern ihre zahlreichen Verletzungen. Während die alte Frau einen Stoffzipfel ins Wasser tunkte und die Kratzer, Schrammen, Prellungen und andere mehr oder weniger tiefen Wunden auf Robins Körper zu säubern begann, trug Saila selbst eine Salbe auf ihre schlimmsten Blessuren auf, die nicht gerade gut roch, aber angenehm kühl auf der Haut war.

Die Verrichtungen der beiden Frauen waren unangenehm oder taten sogar weh, doch wenn Robin im Verlaufe des zurückliegenden Jahres eines gelernt hatte, dann dies: Schmerzen zu ertragen.

Als die beiden Frauen schließlich fertig waren, fühlte sie sich so gut wie schon lange nicht mehr. Sie war noch immer erschöpft und spürte eine permanente Benommenheit, ein Gefühl, wie man es manchmal hatte, wenn man unvermittelt aus tiefstem Schlaf gerissen wurde, nur dass diese Müdigkeit einfach nicht mehr weichen wollte. Es zwickte und schmerzte überall, aber es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ihr weibliche Wesen eine fast mütterliche Fürsorge angedeihen ließen - Frauen, die es allem Anschein nach gut mit ihr meinten -, und dieses Gefühl glich alle körperliche Unbill aus.

Als Saila ihr bedeutete, dass sie fertig war, wollte Robin die Decke wieder hochziehen, aber die Araberin schüttelte den Kopf und wies auf das Kleidungsstück, das Nemeth mitgebracht hatte. Offensichtlich wollte sie, dass Robin es anzog, und Robin hatte nichts dagegen. Nur in eine Decke gewickelt herumzulaufen erschien ihr würdelos und außerdem war der Stoff grob und scheuerte auf ihrer geschundenen Haut. Sie nickte, und das Mädchen legte das Kleid mit einer fast feierlichen Bewegung neben ihr auf den Boden. Statt sich wieder zurückzuziehen, blieb sie neben Robin stehen und deutete auf die dünne Narbe an ihrem Hals. Sie begleitete die Geste mit einer Frage.

Robin hob unwillkürlich die Hand an die Kehle. Nemeths Frage - und vor allem der gleichermaßen erschrockene wie ungläubige Ton, in dem sie sie stellte - war ihr unangenehm. Im Laufe der Monate war die Narbe gut verheilt und mittlerweile auf den ersten Blick kaum noch zu sehen, aber sie war da, und manchmal, vor allem bei einem Wetterumschwung oder bevor es schneite, meldete sie sich mit einem heftigen Jucken und erinnerte Robin daran, wie nahe sie dem Tod schon einmal gewesen war. Es war nicht dieses Jucken, das Robin Unbehagen bereitete, wohl aber die Erinnerung, die damit einherging. Die Tage, die sie auf Leben und Tod dagelegen hatte, zählten zu den schlimmsten ihres Lebens.

Saila hatte ihre Geste bemerkt und scheuchte ihre Tochter mit scharfen Worten davon, aber Robin hielt sie mit einer raschen Handbewegung zurück. »Lass sie«, sagte sie. »Sie ist nur neugierig. Wahrscheinlich sieht man so etwas nicht alle Tage.« Sie wandte sich direkt an Nemeth. »Menschen tun einander manchmal schlimme Dinge an, weißt du? Das hier war eines von diesen schlimmen Dingen. Ich hoffe für dich, dass dir so etwas nie zustößt.«

Natürlich begriff Nemeth die Erklärung nicht, aber sie verstand sehr wohl Robins versöhnlichen Ton, denn sie lächelte plötzlich schüchtern und kam wieder näher. Robin erwiderte ihr Lächeln, wandte sich noch einmal mit einem entsprechenden Blick an Saila und sah schließlich auf das Kleid herab, das neben ihr lag. In dem schwachen Licht hier drinnen konnte sie nicht sagen, ob es schwarz oder dunkelblau war. Der Stoff fühlte sich weicher und angenehmer an, als sie erwartet hatte. Ärmel und Saum des Kleides waren mit dünnen, vom Tragen zerfaserten Schmuckborten besetzt. Das Kleid war weitaus prächtiger als die Gewänder der beiden Frauen, und Robin hatte das unbestimmte Gefühl, dass Saila ihr das eigene Festtagsgewand auslieh.

Die beiden Frauen sahen diskret zu Boden, als Robin die Decke ganz abstreifte und aufstand, um sich das Kleid überzuziehen. Nur Nemeth maß sie mit unverhohlener Neugier und sagte etwas, das ihre Mutter zu einem weiteren scharfen Verweis veranlasste. Nemeth verstummte, doch wirkte sie nicht sonderlich eingeschüchtert. Robin musste ein Lächeln unterdrücken. Anscheinend waren Kinder in einem gewissen Alter überall gleich; ganz egal bei welchem Volk und wo auch immer auf der Welt.

Nachdem sie fertig angezogen war, räusperte sie sich. Saila sah zu ihr hoch und maß sie mit einem langen, kritischen Blick. Schließlich schien sie mit dem Sitz des Kleides durchaus zufrieden zu sein, denn sie nickte lächelnd und deutete nun endlich auf die Schale mit dem verführerischen Essen. Das ließ sich Robin nicht zweimal sagen. Ihr Magen hatte wiederholt hörbar geknurrt, während sich die beiden Frauen um ihre Verletzungen gekümmert hatten.

Die ersten Bissen schlang sie geradezu hinunter, und auch wenn es nur einfaches Fladenbrot und gesalzener Fisch war, so schien es ihr in diesem Moment doch das Köstlichste zu sein, was sie jemals gegessen hatte. Wahrscheinlich hätte sie alles binnen weniger Augenblicke heruntergeschlungen, hätte ihr Saila nicht schließlich die Hand auf den Unterarm gelegt und ihr mit einem milden Lächeln bedeutet, langsamer zu essen. Robin gehorchte, auch wenn es ihr schwer fiel. Gewiss hatte die Araberin Recht: Ihr würde nur übel werden, wenn sie weiter das Essen so in sich hineinstopfte, und dann würde sie am Ende die ganzen Köstlichkeiten wieder von sich geben. Flüchtig dachte sie an die Schiffsreise. Nein, sie würde vorsichtig sein!

Dennoch dauerte es nicht lange, bis sie die Schale bis auf ein paar Krümel Brot und ein kleines Stückchen Fisch geleert hatte. Als sie aufsah, bemerkte sie Nemeth, die wieder näher gekommen war. Diesmal galt ihre Aufmerksamkeit nicht ihr, sondern der Schale. Sie gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, aber Robin sah sehr deutlich, dass ihr buchstäblich das Wasser im Mund zusammenlief.

Sie hatte immer noch Hunger, doch statt auch noch das letzte Stück Fisch zu verzehren, schob sie mit einer auffordernden Geste Nemeth die Schale hin. Das Mädchen wollte schon danach greifen, doch Saila hielt es mit einem scharfen Befehl zurück.

»Lass nur«, sagte Robin. »Sie hat Hunger, und ich kann ja später noch etwas essen. Wahrscheinlich wird mir sowieso nur schlecht, wenn ich jetzt zu viel esse.« Abermals forderte sie Nemeth mit einer Geste auf. »Nimm ruhig.«

Das Mädchen warf noch einen fragenden Blick in Richtung seiner Mutter, dann griff es schnell nach dem Stück Fisch, drehte sich auf dem Absatz um und rannte aus dem Zelt; dabei presste es seine Beute wie einen Schatz an die Brust. Robin sah kopfschüttelnd hinterher und wandte sich dann wieder an Saila.

»Sei ihr nicht böse«, sagte sie. »Kinder haben doch immer Hunger, oder?« Sie atmete hörbar ein. »Ich weiß, ihr könnt mich nicht verstehen, aber ich möchte euch trotzdem sagen, wie dankbar ich euch bin. Ihr habt mir das Leben gerettet. Und nicht nur, weil ihr mich aus dem Wasser gezogen habt.«

Sailas Antwort bestand aus einem fragenden Hochziehen der Augenbrauen, womit Robin gerechnet hatte, aber sie schien zumindest ihren Tonfall richtig zu deuten, denn ein warmer Ausdruck trat in ihre Augen. Zugleich meinte Robin auch so etwas wie Mitleid zu spüren und sie fragte sich, ob es noch einen anderen Grund als ihre Verletzungen dafür geben mochte. Beurteilte sie ihre eigene Situation vielleicht zu optimistisch? War sie wirklich gerettet?

Unsinn! Sie hatte so viel durchgemacht, dass sie sich wohl schon nicht mehr vorstellen konnte, dass es Menschen gab, die es ganz ohne Vorbehalt und Hintergedanken einfach nur gut mit ihr meinten. Es wurde Zeit, sich daran zu erinnern, dass nicht alle Fremden automatisch auch ihre Feinde waren.