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Eine weitere Woge erschütterte das Schiff und durchtränkte Robin mit salziger Nässe. Dennoch blieb sie weiterhin an der Reling stehen, denn nach den endlosen Tagen, die sie in ihrem eigenen Gestank dagelegen hatte, erschien ihr die eisige Seeluft wie eine Labsal. Auch wenn sie vor Kälte buchstäblich mit den Zähnen klapperte, erlangte sie allmählich eine lang vermisste Klarheit über ihre Situation, und selbst ihr rumorender Magen beruhigte sich zusehends. Vielleicht hätte sie Salims Rat doch befolgen und sich schon früher zwingen sollen, an Deck zu gehen. Aber vielleicht hätte sie auch schon vor einem Jahr auf die Stimme der Vernunft hören und erst gar nicht zu diesem Kreuzzug aufbrechen sollen.

»Bruder Robin! Hier oben!«

Robin sah sich einen Moment lang hilflos auf dem überfüllten Deck um, bevor die Stimme zum zweiten Mal erscholl und sie Bruder Abbé entdeckte. Erst einen weiteren Moment später erkannte sie auch den Besitzer der Stimme, der hinter der niedrigen Reling des Achterkastells stand und ihr aufgeregt mit dem linken Arm zuwinkte. Unter den rechten Arm hatte er den plumpen eisernen Helm geklemmt, der seine Rüstung vervollständigte. Das kostbare Bastardschwert, seine Lieblingswaffe, baumelte an einem silberbeschlagenen Wehrgehänge an seiner Seite. Über seine Brust lief ein breiter Lederriemen, mit dessen Hilfe er seinen wuchtigen dreieckigen Schild auf den Rücken geschnallt tragen konnte.

Als Robin sich von ihrem Platz an der Reling löste und sich durch das Gedränge an Deck ihren Weg nach achtern bahnte, bemerkte sie die anderen Tempelritter auf dem erhöhten Achteraufbau. Unter ihnen befanden sich Heinrich, Xavier und der greise Tobias. Alle, die von jener Schar noch übrig geblieben waren, mit der sie einst die kleine friesische Komturei verlassen hatte. Sie waren ausnahmslos in Rüstung und Waffen. Vielleicht hätte sie Abbés Aufforderung doch etwas mehr beherzigen sollen. Aber nun war es zu spät.

Zumindest Abbé schien keinen Anstoß an ihrem unvollständigen Aufzug zu nehmen. Als sie mühsam die kurze, steile Treppe zum Achterdeck hinaufstieg, streckte er ihr hilfreich die Hand entgegen, und Robin nahm das Angebot dankbar an. Obgleich Abbé vermutlich mindestens dreimal so alt wie sie selbst war, war sein Griff so fest, dass er sie mehr zu sich heraufhob, als dass sie aus eigener Kraft ging. Robin verzog schmerzhaft die Lippen. Abbé zwinkerte ihr kurz zu. Mit seiner kurzbeinigen Statur, dem ansehnlichen Schmerbauch und den Stummelfingern hätte er vermutlich wie die typische Witzfigur des dicken Mönchleins ausgesehen, den beim heiligen Abendmahl vor allem der Messwein interessierte, wären da nicht der strahlende Waffenrock des Templerritters gewesen und eine Härte in seinen Zügen, die verriet, dass er in seinem Leben mehr gesehen hatte, als sich ein einfacher Mönch in seinen kühnsten Albträumen auszumalen vermochte.

Ohne ein überflüssiges Wort zu verlieren, ließ er ihre Hand los, trat einen halben Schritt zurück und legte ihr dann die flache Hand auf die Stirn. »Euer Fieber scheint vorbei zu sein«, sagte er laut. »Ich bin froh, dass es Euch besser geht.«

»Fieber?« Robin blinzelte verständnislos. »Aber ich hatte kein...«

Sie brach ab, als sie Abbés warnenden Blick auffing, und schalt sich in Gedanken eine Närrin. Bruder Abbé wusste sehr wohl, dass sie kein Fieber gehabt hatte, sondern ihr nur die Seekrankheit zu schaffen machte. Aber sie waren nicht allein auf dem Achterdeck, und die Worte galten auch gar nicht ihr, sondern dem knappen Dutzend anderer Tempelritter, die sich in unmittelbarer Hörweite befanden und von denen außer Heinrich, Tobias und Xavier keiner wusste, wer sie wirklich war.

»Ah ja, die Jugend«, seufzte Abbé, während er ihr erneut einen warnenden Blick zuwarf. »Ich vermute, dass ich früher auch so war, auch wenn es so lange her ist, dass ich mich kaum noch erinnere. Ihr seid ein tapferer junger Ritter, Bruder Robin, aber lasst Euch sagen, dass es kein Zeichen mangelnden Mutes ist zuzugeben, dass einen das Fieber niedergeworfen hat. Gott wird in seiner unendlichen Weisheit einen Grund gehabt haben, es Euch zu schicken.«

Robin signalisierte ihm auf die gleiche lautlose Art, dass sie seine Botschaft verstanden hatte. Sie wusste nicht, was Gott in seiner unendlichen Weisheit dazu bewogen haben mochte, ihr eine Woche lang die Innereien nach außen zu stülpen und sie sich so elend fühlen zu lassen, dass sie sich mehr als einmal den Tod gewünscht hatte. Aber mit einem Mal wurde ihr klar, was sich hinter Abbés ausdrücklichem Wunsch verbarg, sie in die Kapitänskajüte zu sperren und dort eine geschlagene Woche lang zu isolieren. Es hatte nichts mit ihrer Seekrankheit zu tun. Sie war weiß Gott nicht die Einzige, die darunter litt, auch wenn es sie möglicherweise am schlimmsten erwischt hatte. Abbé hätte darauf vermutlich gar keine Rücksicht genommen. Ihm war es einzig und allein darum gegangen, sie von der restlichen Besatzung der Sankt Christophorus zu trennen. Und ihr Schwächeanfall hatte ihm dazu den besten Vorwand geliefert, den er sich nur wünschen konnte. Krank oder gesund, eine Woche lang auf engstem Raum mit nahezu zweihundert Männern eingesperrt, hätte sie ihr Geheimnis nie und nimmer für sich behalten können.

Demütig senkte sie das Haupt. »Verzeiht, Bruder«, sagte sie, gerade so laut, dass alle anderen hier oben ihre Worte hören konnten, wenn sie es wollten. »Es war nicht meine Absicht, hochmütig zu klingen.«

Abbé lächelte. »Das ist wohl noch ein Vorrecht der Jugend, dass man ihr das Ungestüm in der Wahl ihrer Worte nachsieht«, sagte er. Zugleich drohte er ihr spielerisch mit dem Zeigefinger. »Aber gewöhnt Euch nicht zu sehr daran. Die Zeit der Jugend ist schneller vorbei, als Ihr ahnt.«.

»Vor allem ist unsere Zeit bald vorbei, wenn wir sie weiter mit unnützen Reden vertun«, mischte sich einer der anderen Ritter ein. Robin kannte seinen Namen nicht. Abbé hatte ihn ihr genannt, als der Templer zusammen mit etlichen anderen Rittern kurz hinter Nürnberg zu ihnen gestoßen war, aber sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn sich zu merken. Obwohl sie jetzt seit vielen Monaten gemeinsam unterwegs waren, hielt sie sich nach Möglichkeit von den anderen Rittern fern und hatte praktisch nur Kontakt zu Abbé, den drei weiteren Friesen - und natürlich zu Salim.

»Aber ich bitte Euch, Bruder Dariusz«, sagte Abbé mit sanftem Tadel. »Bruder Robin hat eine schwere Woche hinter sich. Ein paar aufmunternde Worte werden ihm gut tun und uns nicht schaden.«

Der Templer mit dem fremdartig klingenden Namen kam näher und maß zuerst Abbé, dann Robin mit einem langen Blick, wobei sie nicht sagen konnte, wen von ihnen er verächtlicher musterte. Er war ein großer, frühzeitig ergrauter Mann Mitte vierzig, der vielleicht sogar sympathisch gewirkt hätte, wären seine Augen nicht kalt und bar jeder Menschlichkeit gewesen.

»Ich hoffe, wir werden nicht bald alle mit diesem Fieber daniederliegen«, grollte er. »Es ist ja allgemein bekannt, dass Euch eine Menge an diesem jungen Ritter liegt, Bruder Abbé. Wie auch immer, das ist Eure Sache, solange Ihr uns damit nicht in Gefahr bringt.«

»Bruder Robin ist auf ausdrücklichen Wunsch von Bruder Horace hier«, antwortete Abbé kühl. »Solltet Ihr eine Beschwerde haben, so habt Ihr in Kürze Gelegenheit, sie persönlich bei ihm vorzubringen.«

Dariusz’ Lippen wurden schmal, und für einen winzigen Moment erschien doch der Ausdruck eines Gefühles in seinen Augen: ein lodernder Zorn, der gewiss nicht nur diesem kurzen Disput zwischen Abbé und ihm entsprang, sondern ältere und viel tiefer gehende Wurzeln hatte und sich in diesem Moment Bahn brach. Dann aber beherrschte er sich wieder, trat einen halben Schritt zurück und straffte die Schultern.