Und ganz genau das soll sie auch, besagte Horaces Blick. Er antwortete jedoch nicht gleich, sondern sah Abbé für die Dauer von drei oder vier Atemzügen fast nachdenklich an, ehe er sagte: »Es war schon immer die Politik unseres Ordens, Stärke zu zeigen, nicht Schwäche. Es ist diese Stärke, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, nicht Diplomatie und politische Ränkespiele, Bruder Abbé. Und es ist diese Stärke, die uns am Ende zum Sieg verhelfen wird. Sie und Gottes Hilfe.« Er zeigte ein dünnes Lächeln. »Darüber hinaus habe ich einen direkten Befehl des Großmeisters erhalten, den zu kritisieren keinem von uns zusteht. Dass ich zufällig derselben Meinung bin, bedeutet gar nichts. Wir werden wahrscheinlich heute Nacht auf die anderen Schiffe treffen, spätestens jedoch morgen bei Sonnenaufgang. Auf dem Weg nach Akko stoßen dann noch zwei weitere Schiffe zu uns.«
»Acht also«, stellte Abbé besorgt fest. »Wie viele Männer?«
»Mehr als tausend«, antwortete Horace.
Abbé ächzte. »Mehr als tausend Kämpfer in Rüstung und Waffen? In Gottes Namen, Bruder Horace, was habt Ihr vor? Wollt Ihr Akko im Sturmangriff nehmen?«
»Wenn es sein muss, ja«, erwiderte Horace ruhig. »Doch so weit wird es nicht kommen. Schließlich kämpfen wir alle für die gleiche Sache, und unter dem Zeichen des Kreuzes.«
Robin hörte kaum noch hin. Selbst wenn sie das Gespräch interessiert hätte, wäre es ihr schwer gefallen, ihm zu folgen. Sie verstand wenig von Politik und wusste sehr viel weniger von Horaces großem Geheimnis, als dieser zu glauben schien. In der begrenzten Welt ärmlicher Verhältnisse, in denen die meisten Menschen lebten und aus der auch sie stammte, spielte es keine Rolle, wer in Jerusalem herrschte, welcher Adelige durch welches Ränkespiel an die Macht kam und wessen Fahne über welcher Stadt wehte. Die allermeisten wussten nicht einmal, dass es eine Stadt namens Akko gab, und die, die es wussten...
»Bruder Robin?«
Die Stimme drang unangenehm scharf in ihre Gedanken, aber es vergingen noch einige Herzschläge, bis Robin wirklich begriff, dass sie niemand anderem als Horace gehörte und dass die Schärfe darin nicht eingebildet war. Sie suchte den Blick des Tempelritters und nahm erst jetzt wahr, dass Horace sich wie alle anderen erhoben hatte. Oder anders ausgedrückt: Sie war die Einzige, die noch saß. Sie stand so hastig auf, dass ihr Schemel umgefallen wäre, hätte der Platz zwischen der Kajütenwand und ihren Beinen dazu ausgereicht.
»Bruder Horace. Verzeiht, ich war...«
»In Gedanken, das ist mir aufgefallen«, unterbrach sie Horace. Es klang unwillig. »Wie mir scheint, interessiert Euch unser Gespräch nicht sonderlich.«
»Das... das ist es nicht«, stammelte Robin. »Ich war nur...«
Horace unterbrach sie erneut, diesmal mit einer eindeutig unwilligen Geste. »Wir reden später darüber. Es gibt ohnehin ein paar Dinge, die ich mit Abbé und Euch besprechen muss. Jetzt lasst uns beten und Gott dafür danken, dass er uns sicher und unversehrt bis hierher geleitet hat.«
Während Robin wie alle anderen die Hände faltete und demütig das Haupt senkte, versuchte sie, aus den Augenwinkeln den Blick von Abbé einzufangen. Es gelang ihr nicht, aber dafür entging ihr keineswegs das hämische Glitzern in Dariusz’ Augen. Was ging hier vor? In diesem Moment hätte sie ihre rechte Hand für einen Blick hinter Horaces Stirn gegeben, aber sie wagte es nicht, auch nur aufzusehen. Obwohl Horace seinerzeit tatsächlich darauf bestanden hatte, den vermeintlichen Bruder Robin mit auf diesen Kreuzzug zu nehmen, schien er doch auf dem langen Weg von der Komturei in Friesland bis zu dieser Seereise jedes Interesse an ihr verloren zu haben. Und nun forderte er sie auf, sich für ein Gespräch bereitzuhalten? Robin war beunruhigt.
Sie bemühte sich jedoch, sich nichts von ihren wahren Gefühlen anmerken zu lassen, und wiederholte mit klarer, fester Stimme die Worte, die der Tempelritter vorgab. Das Gebet wurde auf Latein gesprochen, wie alle gemeinsamen Gebete. Robin war dieser Sprache nicht mächtig, aber sie hatte beizeiten gelernt, die ihr unbekannten Worte so schnell und flüssig nachzusprechen, dass selbst Bruder Abbé sie schon mehr als einmal argwöhnisch angeblickt und die eine oder andere entsprechende Bemerkung gemacht hatte.
Noch bevor das Gebet zur Hälfte gesprochen war, ging die Tür auf, und ein Mann der Schiffsbesatzung trat ein. Sein Schritt stockte für einen Moment, als ihm klar wurde, dass er im unpassenden Augenblick hereingeplatzt war, dann ging er aber dennoch weiter und drängelte sich mit einiger Mühe zwischen den Rittern und der Kabinenwand hindurch, bis er neben Horace angekommen war. Seine Unverschämtheit ging nicht so weit, den Tempelherrn in seinem Gebet zu unterbrechen, was ihm mindestens einen scharfen Verweis, viel wahrscheinlicher aber eine weitaus schlimmere Strafe eingebracht hätte. Doch es gelang ihm nicht, seine Nervosität zu verbergen. Horace blickte ihn zwei- oder dreimal ärgerlich an, aber er führte das Gebet bis zur letzten Silbe zu Ende, ehe er sich bekreuzigte und sich erst dann stirnrunzelnd zu dem Matrosen umwandte.
»Ja?«
Der Seemann trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, ehe er sich vorbeugte und Horace einige Worte zuraunte. Robin konnte nicht verstehen, was er sagte, aber das Stirnrunzeln des Tempelritters vertiefte sich und ein Ausdruck zwischen Überraschung und Sorge erschien auf seinem Gesicht. Der Matrose schien keine guten Neuigkeiten zu überbringen.
»Schon jetzt?«, fragte Horace schließlich. Er entließ den Seemann mit einer unwilligen Handbewegung, wartete, bis er den Raum verlassen hatte, bevor er sich an die versammelten Ritter wandte. »Der Ausguck hat zwei Schiffe gesichtet, die sich uns von Süden nähern«, sagte er. »Sie sind noch zu weit entfernt, um sie eindeutig zu identifizieren, aber es könnten die sein, auf die wir warten.«
»Doch Ihr bezweifelt das«, vermutete Dariusz.
»Es sind nur zwei, und sie scheinen absichtlich so weit wegzubleiben, dass wir ihre Zugehörigkeit nicht zweifelsfrei klären können«, antwortete Horace. »Es könnten unsere Brüder sein, ebenso gut aber auch Kriegsschiffe Saladins oder harmlose Kauffahrer, die zufällig unseren Weg kreuzen.« Er hob die Schultern. »Wir werden uns Klarheit verschaffen, sobald die Schiffe nahe genug heran sind. Vielleicht werden sie ja auch einfach wieder hinter dem Horizont verschwinden. Kehrt jetzt auf eure Posten zurück.«
Das war eine sehr ungewöhnliche Verabschiedung, fand Robin, vor allem für einen Mann wie Horace, der normalerweise kein Zusammentreffen unbeendet ließ, ohne seinen Weggefährten Gottes Beistand zu versichern. Der Tempelritter schien in größerer Sorge zu sein, als er zugeben wollte.
Da Robin als Letzte hereingekommen war, konnte sie jetzt als Erste den Raum verlassen und die kurze Treppe hinaufeilen. Draußen dämmerte es bereits, und auf dem überfüllten Deck herrschte hektische, wenn auch reichlich ziellose Aktivität. Robin versuchte nach Süden zu spähen, um einen Blick auf die beiden Schiffe zu erhaschen, von denen Horace gesprochen hatte - mit dem einzigen Ergebnis allerdings, dass sie gegen einen Matrosen prallte und um ein Haar von den nachfolgenden Männern über den Haufen gerannt worden wäre. Mehr von Abbé und den anderen geschoben als aus freiem Willen, stolperte sie über das Deck und die Treppe zum Achterkastell hinauf und auf die schmale Planke zu, die zwei Seeleute gerade wieder über die Reling zur Sankt Christophorus hinüberschoben.
Die anderen Ritter wechselten leichtfüßig auf ihr Schiff hinüber, und Robin blieb nichts anders übrig, als es ihnen gleichzutun. Mein Gott, wie sie die Seefahrt hasste! Voller Widerwillen und entsprechend unsicher setzte sie einen Fuß auf die Planke. Eine Welle hob die Schiffe schwankend an, und einen Augenblick lang fürchtete sie, die Balance zu verlieren und zwischen die Schiffe zu stürzen.