12. KAPITEL
Das Licht, das durch die hauchzarten Vorhänge ihres Bettes fiel, hatte den Farbton von geschmolzenem Gold, das noch nicht ganz abgekühlt war, und sie konnte sein Streicheln wie die Berührung zärtlicher Lippen auf den Wangen fühlen.
Robins Blick war noch verschleiert und trübe vom Schlaf. Sie fühlte sich zerschlagen und in ihrem rechten Oberschenkel pochte ein hässlicher Schmerz von der Art, die im Laufe des Tages immer schlimmer werden und schließlich jede Bewegung zur Qual machen würde. In ihrem Kopf wechselten sich die quälenden Erinnerungen an die vergangene Nacht mit denen an schreckliche Albträume ab, in denen sich die Bilder der vergeblichen Flucht mit schrecklichen Visionen und Gestalt gewordener Furcht vermengten. Dennoch fühlte sie sich auf einer anderen, viel machtvolleren Ebene ihres Bewusstseins erholt und gestärkt. Sie bezweifelte ernsthaft, ob sie die Kraft haben würde, auch nur aufzustehen, geschweige denn, einen Schritt zu tun, aber sie hatte dem Schicksal getrotzt, dem Tod, der sie nun zweifellos erwartete, gezeigt, dass sie ihn nicht fürchtete, und ein allerletztes Mal die Freiheit gekostet. Und welchen Preis auch immer sie für diese wenigen Stunden würde zahlen müssen - sie waren es wert gewesen.
Robin schloss die Augen wieder, drehte den Kopf auf dem weichen Kissen und genoss für einen Moment das warme Streicheln des Sonnenlichtes. Gedämpfte Stimmen drangen an ihr Ohr, das Plätschern des Springbrunnens draußen auf dem hinteren Hof und das dumpfe, an- und abschwellende Summen der Stadt. Sie brauchte nicht viel Fantasie, um eine andere Erinnerung heraufzubeschwören, die sich vollkommen von diesem Augenblick und diesem Ort unterschied und ihm doch auf sonderbare Weise glich: Es war das letzte Mal gewesen, dass sie mit Salim zusammen war, im vergangenen Herbst, irgendwo in der Nähe von Nürnberg und nur wenige Tage bevor der Winter hereinbrach und Bruder Abbé und die anderen entschieden, dass sie bis zum Frühjahr Quartier in der großen Stadt machen würden. Danach hatte es keine Möglichkeit mehr für Salim und sie gegeben, sich einen halben Tag oder auch nur eine Stunde zu stehlen. Sie erinnerte sich nicht mehr, worüber sie gesprochen hatten, nicht einmal mehr wirklich, was sie in all diesen Stunden allein im Wald getan hatten, aber es waren ihre letzten Stunden zusammen und allein gewesen, und das allein zählte. Sie spürte plötzlich, dass sie nicht allein im Zimmer war. Mit einem Schlag war sie hellwach und fuhr erschrocken hoch. Im selben Moment bemerkte sie auch schon einen Schatten neben dem Bett; riesig, verzerrt hinter den dünnen Seidenschleiern und so formlos und schwarz wie einer der Dämonen aus ihren Albträumen, der sie ins Erwachen begleitet hatte. Ihr Herz begann heftig zu hämmern. Sie streckte die Hand nach dem Vorhang aus, stockte einen Moment, als sie spürte, wie sich Furcht in ihr breit zu machen begann, und riss die dünnen Seidenschleier zur Seite.
Im nächsten Augenblick hätte sie fast erleichtert aufgeatmet. Es war kein Dämon, kein Fleisch gewordener Nachtmahr, sondern der Sklavenhändler, der, vollkommen in Schwarz gekleidet, hoch aufgerichtet und mit vor der Brust verschränkten Armen neben ihrem Bett stand und auf sie herabsah. Aber vielleicht war ihre Erleichterung ja verfrüht. Ganz egal, wie schlimm sie waren, Albträume pflegten zu verschwinden, sobald man erwachte. Omar tat das nicht. Er stand einfach da und sah sie an, und der Gedanke, dass er sie vielleicht schon eine ganze Weile beobachtet hatte, erfüllte Robin mit Unbehagen.
»Wie lange steht Ihr schon da?«, fragte sie.
Omar antwortete nicht direkt, sondern tat etwas, was Robin noch mehr beunruhigte als seine bloße Anwesenheit: Er lächelte. »Weißt du, dass du recht hübsch aussiehst?«, fragte er. »Zumindest für eine Ungläubige, und wenn du nicht gerade mit einem Schwert in der Hand herumläufst und auf Menschenjagd gehst.«
»Da, wo ich herkomme«, erwiderte Robin trotzig, »hat jeder das Recht, mit dem Schwert in der Hand für seine Freiheit zu kämpfen.«
»Freiheit.« Omar betonte das Wort auf eine sonderbare Art, die sie nicht recht einordnen konnte. Sein Blick verharrte noch einen Moment auf ihrem Gesicht und schien sich dann in eine unbestimmte Weite zu verlieren. »Ein großes Wort. Du benutzt es oft und gerne, nicht wahr?«
»Nur, wenn ich es muss«, antwortete Robin. »Ist es nicht auch bei euch so, dass man am meisten über das spricht, was man am schmerzlichsten vermisst?«
Omar sah sie nur stumm an. Robins Stimme hatte nicht halb so selbstsicher oder gar verächtlich geklungen, wie sie es sich gewünscht hätte, und selbst in ihren eigenen Ohren hörten sich die Worte unbeholfen an, sie betonten ihre Unsicherheit mehr, statt sie zu verbergen.
»Freiheit«, sagte Omar Khalid noch einmal. Er wandte sich langsam um und trat ans Fenster. Mit in den Innenhof hinabgewandtem Blick und sonderbar veränderter Stimme fuhr er fort: »Du benutzt dieses Wort wirklich oft, Christenmädchen. Zumal für jemanden, der selbst mit dem Schwert in der Hand hierher gekommen ist, und unter dem Wappen derer, die es sich zu ihrem erklärten Ziel gemacht haben, einem ganzen Volk seine Heimat wegzunehmen - und damit die Freiheit.«
»Das ist nicht wahr!«, protestierte Robin.
»Aber seid ihr nicht hierhergekommen, um das Banner des Christentums über Jerusalem aufzupflanzen? Haben eure Heere nicht unsere Städte verwüstet, um das, was ihr das Heilige Land nennt, von der Herrschaft der Heiden zu befreien?« Er drehte sich mit einem Ruck zu ihr herum. Sein Gesicht war so ausdruckslos wie fast immer, aber sein Blick war durchbohrend. »Und was die Freiheit angeht, Christenmädchen, dieses hohe Gut, für das du offensichtlich zu sterben bereit bist - gibt es in eurem Land keine Sklaverei?«
»Nein!«, widersprach Robin im Brustton einer Überzeugung, die sie so gar nicht empfand.
Omar lachte. »Du musst entweder sehr dumm sein oder eine sehr gute Lügnerin... aber für dumm halte ich dich eigentlich nicht.«
»Niemand bei uns hält Sklaven!«
»Ihr nennt sie vielleicht nicht so«, erwiderte Omar. Er hob die Hand, als sie ihn unterbrechen wollte. »Ich war noch niemals in den Ländern der Christen, aber ich habe gehört, dort seien die Bauern und Viehzüchter das Eigentum ihrer Grundherren, der Adeligen. Du behauptest, sie seien frei, und doch nennen sie sich selbst Leibeigene. Sie müssen tun, was ihre Herren von ihnen verlangen, und wer sich gegen ihre Befehle auflehnt, der wird oft grausam bestraft. Sag mir, Christenmädchen, ist das alles falsch, was man mir erzählt hat?«
Robin schluckte die wütenden Worte, die ihr auf der Zunge lagen, herunter. Sie konnte nicht antworten, denn Omar hatte Recht. Vielleicht hatte er sogar in weitaus größerem - und schlimmerem - Maße Recht, als er selbst wusste. Sie starrte eine Weile an ihm vorbei ins Leere und wünschte sich, sich nicht so hilflos und auf eine fast absurde Weise schuldig zu fühlen. Als Omar nach einem tiefen Seufzen das Thema wechselte, war sie fast erleichtert.
»Du weißt, dass ich dich bestrafen muss.«
Auch diesmal nickte Robin nur stumm. Sie hatte weder vergessen, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte, noch die Worte, mit denen er Naidas Strafe kommentiert hatte.
Omar wartete eine Weile vergeblich auf eine Entgegnung, dann fuhr er fort: »Deine Strafe wird sehr hart ausfallen. Ich wollte, ich müsste es nicht tun, aber ich habe keine Wahl.«
»Willst du mich auspeitschen lassen?«, fragte Robin spitz. »Du weißt doch, dass du deine kostbare Ware beschädigst und dadurch ihren Wert minderst.«
»Was du getan hast«, sagte Omar unbeeindruckt, »ist weit mehr als ein simpler Fluchtversuch. Damit habe ich gerechnet - schon zu einem viel früheren Zeitpunkt, wenn ich ehrlich sein soll - und ich hätte ihn dir nicht übel genommen. Auch ich an deiner Stelle hätte wohl versucht zu entkommen. Aber es war nicht nur eine Flucht. Du hast einen Aufstand angezettelt, der meinem Ruf in Hama sehr geschadet hat.«
Seltsamerweise stahl sich die Andeutung eines Lächelns auf seine Lippen, als er weitersprach. »Al Malik al Mustafa Omar, der Neffe des Sultans und Herrscher der Stadt, ist sehr beunruhigt über die Berichte, dass eine bewaffnete Frau den Aufstand angeführt und dabei gekämpft hat, als sei ihr der Sheitan persönlich in den Leib gefahren. Deshalb hat er mich heute Morgen in den Palast befohlen. Unser Herrscher hat sich erst wieder beruhigt, nachdem ich geschworen habe, es sei nichts anderes als ein verwirrter Mann gewesen, der sich für die Flucht mit Frauenkleidern getarnt habe.«
»Und er hat Euch geglaubt?«, fragte Robin.
»Das wird er müssen, denn ich habe ihm mein Wort gegeben, dass dieser gemeingefährliche Aufrührer noch heute Morgen hingerichtet wird.« Er trat einen Schritt zur Seite und deutete mit einer Handbewegung zum Fenster. »Überzeug dich selbst.«
Robin starrte ihn einen Moment lang mit klopfendem Herzen an, dann stemmte sie sich hastig in die Höhe und humpelte zum Fenster. Der Anblick, der sich ihr bot, hatte sich abermals verändert. Das große Tor stand weit offen, und sowohl das Podest, auf dem die Sklaven zum Verkauf ausgestellt worden waren, als auch die Sitzbänke und Sonnensegel waren verschwunden. Dort, wo das hölzerne Podest gestanden hatte, ragte nun ein mehr als zwei Meter hoher Pfahl in die Höhe, an dessen Spitze ein menschlicher Kopf aufgespießt war. Der Hof war voller Menschen. Zahlreiche Männer, Frauen und zu Robins Entsetzen auch Kinder waren durch das offene Tor hereingeströmt. Sie drängelten und schubsten, um einen Platz zu ergattern, von dem aus sie die grausige Trophäe besser sehen konnten.
»Welcher unschuldige Sklave musste jetzt wieder sterben, um deine Grausamkeit zu befriedigen?«, flüsterte sie.
»Sieh genau hin«, antwortete Omar. »Du kennst ihn.«
Robin machte einen zögerlichen Schritt bis ganz ans Fenster heran und achtete dabei darauf, dass ihr Gesicht im Schatten blieb. Sie trug keinen Schleier und sie wollte Omar keinen Anlass liefern, irgendeinem der armen Teufel dort unten aus purer Grausamkeit die Augen ausstechen zu lassen.
Es dauerte nur einen Augenblick, bis sie erkannte, wessen Kopf auf dem Pfahl steckte. Man hatte den bärtigen Mann rasiert und ihm die Haare geschnitten und in einem rotflammenden Ton gefärbt, aber es war dennoch ganz zweifelsfrei Mustafa, Sailas Mann und Nemeths Vater.
»Wir mussten ihn vor der Hinrichtung so weit wie möglich in dich verwandeln«, sagte Omar. »Danke Allah dafür, dass du in finsterer Nacht geflohen bist, und nicht am helllichten Tage.«
Robins Hände begannen zu zittern. Der Anblick entsetzte sie wie kaum etwas zuvor und dennoch war sie nicht dazu in der Lage, ihren Blick von Mustafas schlaffen Zügen und seinen im Tod gebrochenen Augen zu nehmen. Sie hatte allen Grund der Welt gehabt, diesen Mann zu hassen, dennoch war sie schockiert von dem Anblick. Mustafa mochte den Tod dutzendfach verdient haben, aber das Verbrechen, für das er hingerichtet worden war, hatte sie begangen.
»Ist das Eure Art, Rache zu üben?«, fragte sie. »Wollt Ihr mich quälen, indem Ihr anderen die Schmerzen zufügt, die mir zustehen?«
Omar wirkte ehrlich überrascht. »Dieser Mann war dein Feind.«
»Das ist wahr«, sagte Robin leise. »Er hat uns verraten. Ohne ihn wäre uns die Flucht vielleicht gelungen.«
»Er hat gelebt wie ein Hund, und er ist gestorben wie ein Hund«, antwortete Omar. »Meine Männer haben ihn mit Knüppeln zu Tode geprügelt, und das war wohl noch eine Gnade für ihn, denn hätten sie ihn mir lebend übergeben, dann hätte sein Sterben sehr viel länger gewährt.«
»So bedankt Ihr Euch bei denen, die Euch einen Gefallen erweisen«, sagte Robin bitter.
»Verrat ist niemals ein Gefallen«, erwiderte Omar. »Er hat euch verraten, um dir zu schaden, nicht um mir einen Gefallen zu erweisen.« Er lächelte kalt. »Du siehst, welche Strafe ich Verrätern angedeihen lasse. Welche Strafe also meinst du wäre für dich angemessen?«
Robin straffte die Schultern und reckte kampflustig das Kinn vor. »Ich habe keine Angst vor dem Tod«, sagte sie. »Und auch nicht vor der Folter.« Zumindest der letzte Satz war eine glatte Lüge, und das kurze Aufblitzen in Omars Augen machte ihr klar, dass er das wusste.
Beunruhigend lange sah er sie nur an, dann wich er wieder zwei Schritte zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und fuhr sich nachdenklich mit der linken Hand über den Bart. »Du begreifst gar nichts«, murmelte er. Dann straffte er die Schultern und fügte in zugleich entschlossenem wie auch fast traurig klingendem Tonfall hinzu: »Du wirst noch heute Nachmittag bestraft werden. Bereite dich darauf vor.«