Robin konnte den Unterschied nicht benennen. Er war redselig und aufgekratzt wie immer. Wechselweise munterte er sie mit Lob auf oder belegte sie mit den wütendsten Flüchen. Mal malte er ihr ihre eigene Zukunft in Farben aus, die noch deutlich schwärzer waren als die Paste auf ihren Knien, und dann wieder machte er ihr vollkommen überzogene Komplimente. Und dennoch spürte Robin, dass irgendetwas an ihm anders war. Von dem riesigen, schwerfälligen Mann ging eine Spannung aus, die fast greifbar war.
Vielleicht lag es aber auch nur an ihr. Robin war müde. Ihr Oberschenkel schmerzte und ihre Hand- und Fußgelenke brannten an den Stellen, die sie mit ihrem sinnlosen Widerstand wundgescheuert hatte. Obwohl sie mit aller Macht dagegen ankämpfte, musste sie doch ständig an den vergangenen Tag und die grauenhafte Szene zurückdenken, die mitzuerleben Omar sie gezwungen hatte. In zumindest einem Punkt hatte er Recht gehabt: Ihre Strafe war schlimmer gewesen, als sie es sich jemals hätte ausmalen können. Und sie war noch lange nicht zu Ende. Zu dem Gesicht des sterbenden Kriegers, das sie in ihren Träumen quälte, waren nun auch noch Rustans gellende Schreie gekommen, die sie wahrscheinlich nie wieder vergessen würde.
Den Rest des vergangenen Tages hatte sie wie in Trance verbracht. Sie erinnerte sich kaum noch daran, dass die beiden Dienerinnen zu ihr gekommen waren, um ihr zu essen zu bringen und ihr dabei zu helfen, sich zu waschen und frische Kleider anzulegen. Die Nacht hatte kein Ende genommen. Sie hatte geschlafen, aber es war kein erquickender Schlaf gewesen und er hatte nicht lange gedauert. Aus der Hölle ihrer Albträume war sie ein paar Mal in die nicht minder schlimme Realität der Erinnerungen herüber- und wieder zurückgeglitten, und sie fühlte sich so gerädert, als hätte sie mindestens eine Woche im Sattel verbracht.
»Bei allen Dämonen der siebten Hölle, Mädchen, hörst du mir überhaupt zu?«, raunzte Harun sie an.
Robin blinzelte - wobei sie nicht ohne Schadenfreude bemerkte, wie der Wimpernstrich, den Harun in diesem Moment zog, deutlich länger ausfiel und in eine andere Richtung führte, als ihm lieb sein konnte -, schüttelte den Kopf und sagte ehrlich: »Nein.«
Harun al Dhin seufzte tief, legte den Holzspan aus der Hand, tunkte einen Tuchzipfel in die neben ihm stehende Wasserschale und entfernte den missglückten Strich von Robins Augenlid. Es war nicht das erste Mal, dass er das tat. »Beim Barte des Propheten, was habe ich nur getan, um so bestraft zu werden?«, jammerte er.
»Ich frage mich, was ich getan habe, um mit dir bestraft zu werden«, parierte Robin.
»Ist es in eurem Land eine Strafe für eine Frau, wenn sie besser aussieht?«, wollte Harun wissen.
»Warum sollte ich wohl besser aussehen, wenn mir jemand mit einem Holzspan Dreck um die Augen schmiert?«, fragte Robin. »Warum habe ich mich eigentlich heute Morgen gewaschen?«
Harun zog die Hand zurück; konzentriert begutachtete er einen Moment lang sein Werk und nickte dann zufrieden. »Nun, du dornenreichste unter den schönen Wüstenrosen«, antwortete er, während er den Span wieder zur Hand nahm und Robins Gesicht mit der kritischen Pose eines Künstlers musterte, »wisse, dass die dunklen Striche um deine Augen ihren Glanz betonen und deinen Blick sinnlicher und geheimnisvoller erscheinen lassen. Im Übrigen«, fügte er in leicht beleidigt klingendem Tonfall hinzu, »stammt dieser Dreck, wie du ihn zu belieben nennst, vom fernen Kandahar. Ein kleines Gefäß davon ist kostbarer als ein kräftiger Sklave. Natürlich könnte Omar Khalid mich auch ordinäre Lidschminke aus Fett und Ruß auftragen lassen. Doch für dich ist ihm das Teuerste gerade gut genug!«
»Ja. Damit er noch mehr aus mir herausschlägt, wenn ich gleich wie ein Stück Vieh unten auf dem Markt verschachert werde.«
Harun lächelte verzeihend. »Dieser Markt wird mit einem Viehmarkt nicht viel gemein haben, Schwester der Morgenröte.«
Robin zog eine Grimasse, aber diesmal achtete sie darauf, das Augenlid dabei nicht zu bewegen. Nicht, dass sie Harun irgendetwas schuldig war - schon gar keinen Gehorsam -, aber ihr war klar, dass ihr Benimmlehrer diese Prozedur bis Sonnenuntergang fortsetzen würde, wenn sie ihn dazu zwang. Harun al Dhins Geduld entsprach durchaus seiner gewaltigen Größe und Körperfülle.
Endlich schien Harun mit dem Erreichten zufrieden zu sein. Er legte den Span nach einem letzten prüfenden Blick in Robins Gesicht aus der Hand, ließ sich zurücksinken und seufzte so tief, als hätte er soeben eine stundenlange schwere körperliche Anstrengung hinter sich gebracht. »Allah möge mir verzeihen«, sagte er, »aber das ist alles, was ich zustande bringe. Man müsste schon ein Magier sein, um aus diesem Bauerntrampel eine Königin zu machen.« Er winkte Aisha mit einer müde wirkenden Geste heran. »Übernimm du den Rest, meine Liebe. Meine Kräfte sind erschöpft.«
Aisha kam gehorsam heran, ein winziges Glasfläschchen mit einem wohlriechenden Parfüm in der linken und ein kaum weniger kostbares Seidentuch in der rechten Hand. Harun rutschte auf den Knien ein Stück zur Seite und Aisha nahm seinen Platz ein. »Nimm die Arme hoch«, befahl sie.
Robin gehorchte und die Sklavin stieß einen leisen, erschrockenen Schrei aus. »Schaut nur, Herr!«, rief sie. »Man hat ihr die Achseln nicht rasiert. Was ist das für ein Haus? In diesem Borstendickicht duftet sie nach frischem Kameldung, nicht nach Parfüm.« Ihr Blick wurde strafend. »Heißt waschen für dich etwa, dass du dir mit einem feuchten Tuch ein wenig das Gesicht abtupfst, Christin?«
Harun lachte leise. »Manche Männer mögen so etwas, Liebes. Wie ich immer sage: Das Wesen der Ungläubigen ist unergründlich. So wie ihre Religion. Sie behaupten ja auch, dass der Prophet Jesus Gottes Sohn sei. So ein Unsinn, nicht wahr?«
»Was soll das?« Robin versuchte, Aishas Hand zur Seite zu schlagen. Aber die Sklavin wich ihrem Hieb mit überraschender Leichtigkeit aus und packte ihrerseits Robins Handgelenke, um sie kraftvoll niederzudrücken. Robin keuchte überrascht auf. Sie versuchte sich loszumachen und schließlich gab Aisha sie widerstrebend frei - wie die Mutter ein Kind, das sie zu fest gedrückt hatte.
»Was soll das?«, fragte sie zornig, an Harun gewandt. »Niemand wird die paar Haare unter meinen Armen zu sehen bekommen.«
Harun lachte leise. »Ich fürchte, mein liebes Kind - wer immer dein neuer Herr sein wird, wird noch sehr viel mehr zu sehen bekommen. Und zu riechen. Aisha hat Recht. Wir wollen doch nicht, dass dein neuer Herr am Ende glaubt, er teile das Lager mit einem Kamel oder einer Ziege, nicht wahr?«
»Jeder Mann, der es nötig hat, eine Frau zu kaufen, sollte froh sein, wenn er ein Kamel oder eine Ziege bekommt«, erwiderte Robin trotzig.
»Du urteilst vorschnell über Dinge, von denen du nichts weißt, Robin.«
»Wo ich herkomme, ist es üblich, um eine Frau zu werben«, setzte Robin nach. »Es gilt als edel, ihr Herz zu erobern, nicht sie anmalen zu lassen wie eine Puppe oder sie wie eine solche zu kaufen.«
Haruns strahlendes Lächeln gefror. »Hier auch, mein liebes Kind«, sagte er. »Glaube mir, hier auch. Nicht alle Männer meines Volkes sind so wie Omar.«
Es war etwas in diesen Worten und auch in der Art, wie er sie ansah, das Robin einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Zweifellos waren sie als Beruhigung gedacht, aber ihr machten sie Angst.
»Und wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass einer von denen, die nicht so sind, mich von Omar kauft?«, fragte sie.
»Das liegt ganz bei Omar selbst«, antwortete Harun. »Ich weiß, dass er ein gieriger und gnadenloser Mann ist, aber ich weiß auch, dass er ein Mann von großer Klugheit und Vorsicht ist. Ich hoffe, seine Klugheit wird seine Geldgier im Zaum halten.«