Doch dann gab sie sich einen Ruck und eilte mit wenigen Schritten und ohne hinunterzusehen auf die andere Seite. Als sie endlich aufs Deck sprang, hätte sie vor lauter Erleichterung beinahe laut aufgeschrien.
Doch ihre Freude war verfrüht. Die Sankt Christophorus legte sich auf die Seite, wodurch sie ihr gerade wiedergewonnenes Gleichgewicht verlor und hilflos mit den Armen rudernd davonschlitterte. Ein Matrose sprang ihr lachend aus dem Weg und gab dabei den Blick auf Dariusz frei, der sich umdrehte und ihr finster entgegenstarrte.
Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Ein Zusammenprall schien unvermeidlich, als sich im buchstäblich allerletzten Augenblick eine Hand um ihren Arm schloss und sie mit eisernem Griff festhielt. Ein dunkelhäutiges Gesicht blickte besorgt auf sie herab - oder vielmehr der schmale Ausschnitt über Nasenwurzel und Augen, der zwischen Turban und schwarzblauem Gesichtstuch erkennbar war.
Stirnrunzelnd wandte sich Dariusz ab und war mit ein paar Schritten ihrem Blickfeld entschwunden.
»Danke«, seufzte Robin erleichtert. »Fast wäre ich in meinen Busenfreund hineingeschlittert. Du hast mich vor dem schlimmsten Zusammenstoß meines Lebens bewahrt.«
»Stets zu Diensten«, antwortete Salim in seiner gutmütig herablassenden Art, die sie ebenso an ihm liebte, wie sie sie oft genug in Rage brachte. Er ließ ihren Arm nicht los, sondern hielt sie im Gegenteil so fest, dass es beinahe wehtat.
»Das ist ja auch deine Aufgabe«, antwortete sie spitz. »Ich meine: Immerhin bist du mein Leibwächter, oder?«
»Und das mit großem Vergnügen«, bestätigte Salim anzüglich. »Tatsächlich habe ich niemals lieber auf einen Leib aufgepasst als auf deinen.«
»Und wie es aussieht, wirst du dazu bald reichlich Gelegenheit bekommen.« Bruder Abbé trat stirnrunzelnd zwischen sie und brachte Salim so dazu, Robins Arm loszulassen. Er lächelte, als habe er gerade einen besonders gelungenen Scherz zum Besten gegeben, aber als er weitersprach, senkte er die Stimme beinahe zu einem Flüstern, und in seinen Augen erschien ein warnender Ausdruck.
»Sprecht nicht so laut, Dummköpfe«, sagte er. »Wir sind nicht allein. Dariusz und ein paar der anderen sind ohnehin schon misstrauisch.«
»Was ist mit diesen Schiffen?«, fragte Robin rasch, bevor Salim widersprechen und Abbé damit womöglich noch weiter reizen konnte. »Horace schien über ihr Auftauchen äußerst besorgt zu sein.«
»Mit Recht«, antwortete Abbé. »Das Meer ist zu groß, als dass ich wirklich an einen Zufall glauben könnte. Und wenn es nicht unsere Schiffe sind...« Er hob die Schultern und ließ den Satz unbeendet, was den Ernst der Lage noch unterstrich. Nach einem abermaligen Seufzen wandte er sich ab und starrte eine Weile wortlos und sehr konzentriert nach Süden, in die Richtung, in der die beiden Schiffe gesichtet worden waren. Robin konnte dort nichts Außergewöhnliches ausmachen, aber das bedeutete nichts - das Tageslicht schwand rasch, und eine Woche Seekrankheit hatten ihre Sehkraft auch nicht unbedingt gestärkt.
»Ich kann nichts erkennen«, seufzte Abbé schließlich. »Ich will nicht mit dem Schicksal hadern, aber manchmal wünschte ich mir doch, zwanzig Jahre jünger zu sein und noch bessere Augen zu haben.«
»Die Schiffe sind da«, sagte Salim leise. Er machte eine Kopfbewegung zum Mast hinauf. »Ich war im Ausguck. Es sind drei, nicht zwei. Mindestens.«
Abbé sah ihn mit ausdruckslosem Blick an. »Unsere?«
Salim schüttelte den Kopf. Er sagte nichts. Abbé blickte ihn noch eine Weile ebenso besorgt wie nachdenklich an, dann seufzte er erneut und sehr tief und drehte sich mit einer Bewegung herum, die unendlich müde wirkte und ihn um mindestens zehn Jahre älter aussehen ließ.
»Bring Robin zurück in ihr Quartier«, sagte er leise. »Was immer passiert, du weichst nicht von ihrer Seite.«
Salim nickte, aber Robin trat demonstrativ einen Schritt zurück und reckte trotzig das Kinn vor. »Was soll das? Habt Ihr nicht selbst gesagt, dass ich kein Kind mehr bin? Also behandelt mich auch nicht so!«
»Wenn du aufhörst, dich wie eines zu benehmen, gerne«, antwortete Abbé müde. »Was hast du vor, wenn wir wirklich angegriffen werden? Dich wie ein Ritter in die Schlacht zu werfen? Mach dich nicht lächerlich.«
»Ich kann so gut mit dem Schwert umgehen wie alle anderen hier«, beharrte Robin. »Salim hat mich gut ausgebildet.«
»Hat er dich auch unverwundbar gemacht?«, fragte Abbé. Er schüttelte, mit einem Mal erzürnt, den Kopf. »Was, wenn du verletzt wirst, du dummes Kind? Vielleicht so schwer, dass du verbunden werden musst und jemand sieht, was sich unter deinem Kettenhemd verbirgt, Bruder Robin!«
»Warum bin ich dann überhaupt hier?«, entgegnete Robin wütend. Allerdings galt diese Wut zu einem Gutteil ihr selbst, nicht Abbé. Natürlich hatte er Recht. Aber das führte auch nur dazu, dass sie sich noch hilfloser fühlte und noch wütender wurde. Dennoch fuhr sie fort: »Wozu hat Salim mich reiten gelehrt und Bogen schießen und fechten?«
»Um dich deiner Feinde zu erwehren«, antwortete Abbé scharf. »Und dafür zu sorgen, dass du eben nicht verletzt wirst, denn das wäre unser aller Ende. Und jetzt geh! Ich lasse dich rufen, wenn ich deine Unterstützung brauche, Bruder Robin.«
2. KAPITEL
ZU ihrer eigenen Überraschung fand Robin in dieser Nacht doch noch Schlaf, auch wenn er alles andere als ruhig oder gar erfrischend war. Sie erwachte zwei- oder dreimal, das letzte Mal mit hämmernden Kopfschmerzen, einem schalen Geschmack im Mund und dem sicheren Gefühl einer nahenden Katastrophe.
Umständlich richtete sie sich auf den mit Stroh gefüllten Leinensäcken auf und fuhr sich mit der Hand über die Augen, um die Benommenheit wegzuwischen, die noch immer ihren Blick verschleierte. Es war nicht mehr vollkommen dunkel in der Kabine, aber auch noch nicht wirklich hell. Fleckiges Zwielicht sickerte durch das bunte Bleiglasfenster herein und unterstrich die unwirkliche Stimmung. Sie vernahm ein Durcheinander von Geräuschen, die sie einzeln nicht ausmachen konnte, die in ihrer Gesamtheit jedoch ihre Beunruhigung noch steigerten. Sie blieb einen Moment lang reglos sitzen, lauschte auf das Hämmern ihres Herzens und versuchte, sich an die zurückliegende Nacht zu erinnern. Sie hatte geträumt und das flüchtige Gefühl zurückbehalten, dass ihr etwas Schreckliches widerfahren würde.
Die Tür flog auf, und Salim stürmte herein. Für einen Sekundenbruchteil stockte sein Schritt, anscheinend war er überrascht, sie schon wach vorzufinden, dann aber warf er die Tür hinter sich zu und war mit zwei weit ausgreifenden Schritten neben ihrem Bett. »Die Verfolger«, sagte er knapp.
Robin blinzelte ihn verständnislos an. »Was?«
»Es sind keine Piraten und auch keine Kreuzfahrer«, sagte Salim. Er machte eine unwillige Geste. »Vier Schiffe, vielleicht mehr! Sie kommen näher. Piraten würden sich niemals an einem mit Rittern überfüllten Ordensschiff vergreifen, das einen harten Kampf, aber kaum Beute verspricht. Es müssen Schiffe aus Saladins kleiner Flotte sein!«
»Aber das...«
»... kann kein Zufall sein, ich weiß«, fiel ihr Salim ins Wort. »Abbé hatte Recht. Wir sind verraten worden. Sie werden angreifen, sobald es hell geworden ist.«
»Schiffe Saladins?«, murmelte Robin verständnislos. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. Sie war noch immer schlaftrunken und hatte alle Mühe, Salims Worten irgendeinen Sinn abzugewinnen. Vielleicht wollte sie es auch gar nicht.
»Vier Schiffe«, bestätigte Salim grimmig. »Sie beginnen, uns einzukreisen. Bei gutem Wind sind ihre Schiffe langsamer als wir, aber dieser Narr Horace denkt ja nicht daran, ihnen einfach davonzusegeln, solange wir noch können.«