Trotz der unterschwelligen Angst war sie plötzlich wieder zu einem Gutteil die alte Robin, die sie gewesen war, bevor das Meer und ein boshaftes Schicksal sie an die Küste dieses fremden, feindseligen Landes geworfen hatten. Sie trug weder ein Kettenhemd noch den Wappenrock der Tempelritter, sondern die Kleider eines Arabers und keinerlei Waffen. Aber jetzt spürte sie wieder die alte Erregung, das Kribbeln der Gefahr und die Herausforderung, einfach um die entscheidende Winzigkeit besser zu sein als die, vor denen sie auf der Flucht waren.
Sie war nicht die Einzige, die dann und wann einen Blick über die Schulter zurückwarf, während sie nahezu lautlos die Gasse hinunterhuschten. Dabei versuchte sie, sich jede Einzelheit einzuprägen; vielleicht ergab sich für Nemeth, Saila und sie ja doch noch die Möglichkeit zur Flucht und dann mochte es lebenswichtig sein, zu wissen, vor wem sie überhaupt davonlief.
Omar rechnete offenbar mit Robins noch immer rebellischer Natur und hatte einem erneuten Fluchtversuch ihrerseits vorgebaut. Sie schätzte ihre bewaffnete Begleitung auf zwanzig Mann, - damit blieben Saila höchstens noch ein halbes Dutzend Wachen, um das Heim des Sklavenhändlers vor einem etwaigen Angriff der Assassinen zu verteidigen. Omar und sein Leibwächter bildeten die Spitze der kleine Kolonne, die sich nahezu lautlos die Straße hinabbewegte, während Harun, Robin, Nemeth und Saila an allen Seiten von Wächtern abgesichert waren. Mehrere der Männer hatten schwere Säcke geschultert, und einer schleppte sich gar mit einer schweren, eisenbeschlagenen Truhe ab, unter deren Gewicht er deutlich wankte.
Ob es klug war, mit solch schwerem Gepäck den Weg durch die engen Gassen der Stadt zu wagen, bezweifelte Robin. Vielleicht hatten die Assassinen mit ihrer Botschaft Omars Truppe ja nur frühzeitig aus ihrem festungsähnlichen Bau aufstöbern wollen, um ihr dann im Schutz des unübersichtlichen Straßenverlaufs aufzulauern und sie noch vor Antritt der eigentlichen Reise so weit wie möglich zu dezimieren. Wenn ihnen in diesem Fall heimlich Bogenschützen auflauern sollten, so konnte das auch für sie, Saila oder Nemeth böse ausgehen.
Nach einer schieren Ewigkeit hatten sie unbehelligt den Basar und die engen Gassen Hamas hinter sich gelassen. Ob Robin nun allerdings aufatmen konnten, wagte sie zu bezweifeln. Denn jetzt tat sich vor ihnen die breite Straße auf, die in sanfter Neigung hinab zum Ufer des Orontes führte, der Hama in zwei ungleiche Hälften teilte - und damit drohte die nächste Gelegenheit für einen Hinterhalt. Fast erschien ihr die über den Fluss führende Brücke wie der Weg über den Styx, der vom Reich der Lebenden ins Totenreich führte.
Omar gebot ihnen mit einer Geste stehen zu bleiben. Nachdem der Trupp gehorsam und nahezu lautlos angehalten hatte, machte er ein weiteres Handzeichen, und zwei seiner Krieger eilten voraus. In ihren schwarzen Gewändern verschmolzen sie schon nach wenigen Schritten mit der Nacht. Die Brücke stieg zur Mitte hin an, sodass sie das andere Ende nicht sehen konnten, und wieder erhielt Robins Unruhe neue Nahrung.
Endlich ging es weiter. Tausende und Abertausende von Füßen, Kamelhufen und Karrenrädern hatten das Straßenpflaster der Brücke sorgsam poliert, und sie mussten sich in Acht nehmen, um auf den glatten Pflastersteinen nicht auszurutschen. Trotzdem beschleunigte Robin wie die anderen unwillkürlich ihre Schritte, als sie sich der Mitte der Brücke und somit dem Punkt näherten, an dem das jenseitige Ufer wieder in Sicht kam. Robin versuchte vergeblich, den Gedanken zu verscheuchen, was für erstklassige Ziele sie hier für einen Bogenschützen abgeben mussten.
Die beiden Späher des Voraustrupps machten am anderen Ende der Brücke Halt und auch Omar gab das Zeichen zum Anhalten. Er sah sich nervös um. Seine Gedanken mussten sich auf ähnlichen Pfaden bewegen wie die Robins. Sie selbst ertappte sich dabei, Nemeth viel zu fest an sich zu drücken. Ihre Beunruhigung war längst zu nackter Angst geworden, aus der langsam, aber unaufhaltsam Panik zu werden drohte. Mit klopfendem Herzen suchte sie das Ufer vor sich mit Blicken ab.
Gleich hinter der Brücke erhoben sich die steinernen Kuppeln und der sonderbar anmutende eckige Turm einer großen Moschee. Einen Herzschlag lang glaubte Robin hinter dem Geländer der Turmplattform, genau dort, von wo aus der Muezzin normalerweise zum Gebet rief, einen Schatten zu erkennen. Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen, und sie strengte sie so an, dass sie zu brennen begannen.
Dann sah sie die Fledermäuse, die in weiten Kreisen um den Turm zogen. Vor lauter Erleichterung hätte sie beinahe laut aufgelacht. Die Tiere waren harmlos, ganz egal, was man ihnen auch nachsagte, und im Augenblick waren sie der beruhigendste Anblick, den sie sich nur denken konnte. Hätte dort oben ein verborgener Attentäter auf sie gelauert, dann wären diese geflügelten Jäger der Nacht nicht da.
Nicht weit von der Moschee entfernt drehte sich gemächlich ein fast turmhohes Wasserrad, dessen Schaufeln das träge dahinfließende Wasser des Orontes aufwühlten und in einer stiebenden Gischtkaskade aus mehr als zehn Schritten Höhe in den Fluss zurückstürzen ließen. Sonderbarerweise war dabei nicht der geringste Laut zu hören. Auf der anderen Seite der Brücke, auf einem flachen Hügel, der die Gebäude der Stadt nur um weniges überragte, erhob sich die Zitadelle des Statthalters. Hinter ihren hohen Mauern verbarg sich der Palast, in dessen Harem sie um ein Haar gelandet wäre. Robin überlief ein eisiger Schauer, als sie die Festung betrachtete, ein Gebäude, das schon bei Tageslicht betrachtet unheimlich und abweisend wirken mochte, ihr jetzt aber vorkam wie das verwunschene Schloss des bösen Zauberers im Märchen.
Einer der beiden Wächter am anderen Ende der Brücke hob die Hand zum Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Sie gingen weiter. Robin hätte hinterher nicht mehr sagen können, wie lang dieser gespenstische Weg durch die Stadt gedauert hatte. Die Straßen auf dieser Seite des Flusses - der reicheren, wie sie annahm - waren breiter und das Pflaster in besserem Zustand, die meisten Gebäude etwas höher, und hier und da brannte sogar eine Öllampe über einem Eingang. Und das wohl nicht nur, um die Straßen des Nachts zu erhellen und das Gehen so bequemer zu machen, sondern vor allem, um den Reichtum ihres Besitzers zu verdeutlichen. Auch dieser zweite Teil des Weges erschien Robin irgendwie gespenstisch, aber er verlief ebenso ereignislos wie der Weg zum Fluss hinunter. Unbehelligt erreichten sie das erste Ziel ihrer Flucht: Die Karawanserei, von der Omar gesprochen hatte.
Es war ein großer, rechteckiger Bau nahe des Stadttores, mit nur einem einzigen Eingang. Einer von Omars Männern zog einen Dolch aus dem Gürtel und klopfte mit dem Knauf gegen das dicke Holz des Tores. Einen Augenblick später öffnete sich eine kleine Mannpforte darin, und der kleine Trupp betrat einen weiten Hof, der nur von blassem Sternenlicht erhellt wurde. Robin konnte die klobigen Umrisse des eigentlichen Gebäudes auf der anderen Seite nur verschwommen erkennen. Doch um sie herum war Leben. Hier und da raschelte es, klirrte Metall oder erhob sich ein verschlafenes Gesicht, um einen müden Blick in ihre Richtung zu werfen, und ganz in der Nähe glaubte Robin sogar ein tiefes Schnarchen zu hören.
Hinter dem letzten Mann wurde die Pforte sofort wieder geschlossen. Das dumpfe Geräusch, mit dem der schwere Riegel vorgeschoben wurde, sollte ihr eigentlich ein Gefühl von Sicherheit geben, aber das genaue Gegenteil war der Falclass="underline" Sie fühlte sich plötzlich wieder eingesperrt und gefangen.