Irgendwo vor ihnen erklang Lärm. Die Geräusche drangen nur langsam durch den Nebel aus Schmerz und mühsam gehegtem Selbstmitleid, der sich über Robins Gedanken gelegt hatte, aber dann hob sie müde den Kopf und blinzelte in das unbarmherzige Licht der Sonne. Nicht mehr weit vor der Karawane erhob sich ein Dorf aus sonderbar geformten, an Bienenkörbe erinnernden Lehmhäusern. Mehrere Gestalten kamen ihnen entgegen, die meisten davon Kinder, die vermutlich einfach nur neugierig waren. Aber zwischen den ersten Häusern entdeckte Robin auch einige Kamelreiter, auf deren Kopf es silbrig und kupferfarbig aufblitzte. Weitere Verbündete von Mussa Ag Amastan?
Die Karawane wurde schneller, als sie sich dem Ort näherte. Selbst Robin beschleunigte ihre Schritte, fast ohne es zu merken, obwohl sie noch vor einem Moment felsenfest davon überzeugt gewesen war, einfach nicht mehr schneller gehen zu können, und hinge auch ihr Leben davon ab. Doch in diesem Punkt schienen sich Mensch und Tier nicht besonders zu unterscheiden: Der Anblick der nahen Stadt, der Schatten und Erholung versprach, erweckte Kraftreserven in ihnen, von deren Existenz Robin gar nichts gewusst hatte.
Aber die Hoffnung erwies sich als trügerisch. Robin hielt vergebens nach einer Karawanserei, einem Gasthof oder auch nur irgendeinem Gebäude Ausschau, das ihr groß genug erschien, die aus kaum weniger als hundert Tieren bestehende Karawane zu versorgen. Hinter einem lang gezogenen Hain aus Dattelpalmen, der von einer hüfthohen Mauer aus Bruchsteinen eingefasst war, konnte sie den Orontes erkennen, und hätte auch nur ein schwacher Wind geweht, dann hätte sie das Flusswasser vermutlich schon gerochen. Das Dorf selbst aber bestand nur aus sonderbaren, vollkommen fremdartig geformten und allesamt sehr kleinen Lehmgebäuden. Es gab kein größeres Anwesen, keinen zentralen Platz, nicht einmal ein paar Sonnensegel, wie sie sie von Hama her kannte und die wohl das Mindeste gewesen wären, um einer Karawane einen Platz zum Rasten zu bieten.
Vielleicht, weil sie hier nicht rasten würden.
Robin weigerte sich noch eine ganze Weile ebenso beharrlich wie erfolglos, diesem Gedanken auch nur eine Spur von Glaubwürdigkeit zuzubilligen. Doch je näher sie dem Ufer kamen, desto mehr wurde er zur Gewissheit. Die Karawane war längst zu einer weit auseinander gezogenen, zerbrochenen Kette zerfallen, deren vorderste Glieder das Ufer erreichten, als Robin noch eine Viertelstunde qualvollen Fußmarsches davon entfernt war. Dennoch konnte sie über die große Entfernung hinweg erkennen, wie Mussa und Omar Khalid ihre Männer antrieben, die bisher nicht beladenen Kamele auszusondern und zu einer Stelle direkt am Fluss zu führen, an der ein kleines Gebirge Leinensäcke und in langen Reihen stehender dickbauchiger Wasserkrüge auf sie wartete. Vorräte, die sie brauchten, um ihren Weg fortzusetzen.
Die fertig beladenen Kamele wurden zur Tränke an den Fluss geführt. Doch keiner der Männer machte Anstalten, sich von ihnen zu entfernen oder sich auch nur für einen Moment in den Schatten einer der wenigen Dattelpalmen zu setzen, die ihre Wurzeln in den schmalen Streifen fruchtbarer Erde nahe des Flusses gesteckt hatten. Als Robin näher kam, erkannte sie neben Omar Khalid und Mussa einen alten Mann im weißen Kaftan, der heftig gestikulierend auf die Ankömmlinge einredete. Vermutlich gehörte er zum Dorf und war wenig begeistert über die ungeladenen Gäste.
Endlich, nach einer Ewigkeit, hatte auch Robin den Palmenhain erreicht. Sie konnte jetzt den kühlen Hauch spüren, der vom Fluss heraufwehte, und das Murmeln des Wassers hören. In diesem Moment hätte sie ihre rechte Hand darum gegeben, die wenigen Schritte weiter gehen und sich einfach in die Fluten stürzen zu können. Aber keiner der anderen machte auch nur Anstalten, dem Wasser nahe zu kommen. Deshalb ließ auch Robin nur erschöpft den Zügel ihres Kamels los - es war ihr völlig gleich, ob das Tier seinen Platz zwischen den anderen fand, oder sich spontan entschloss, seine Verwandtschaft fünfhundert Meilen entfernt in der Wüste zu besuchen -, taumelte kraftlos noch zwei Schritte weiter und ließ sich erschöpft auf den Rand der niedrigen Bruchsteinmauer sinken, die den Palmenhain umschloss.
Auch Saila tat es ihr mit einem erleichterten Seufzer gleich, hielt aber einen deutlich größeren Abstand, als nötig gewesen wäre, und wich Robins Blick sorgsam aus. Ihr Benehmen schmerzte Robin, aber sie konnte es verstehen. Sie hielt Saila für eine kluge Frau, die vermutlich durchaus wusste, wie wenig Schuld Robin an dem grausamen Schicksal trug, das sie und ihr ganzes Dorf getroffen hatte. Aber auch sie selbst hatte schon zu viel Schmerz erlitten, um nicht zu wissen, dass Vernunft und Empfinden nicht immer Hand in Hand gingen. Wahrscheinlich war sie selbst sogar das beste Beispiel dafür.
»Und es ist wirklich wahr, dass wir deine Dienerinnen werden sollen?«
Robin hatte im ersten Moment Mühe, die Stimme irgendeinem Namen zuzuordnen. Müde hob sie den Kopf, blinzelte, dann erkannte sie Nemeth. Das Mädchen musste so erschöpft und durstig sein wie sie, was es aber nicht daran hinderte, mit einem strahlenden Lächeln zu Robin aufzusehen und offensichtlich eine Antwort auf seine Frage zu erwarten.
Robin konnte sich gar nicht erinnern, Nemeth oder ihrer Mutter von dem Handel erzählt zu haben, den sie mit Omar Khalid geschlossen hatte, aber es musste wohl so sein. »Ja«, sagte sie. »Ihr werdet meine Dienerinnen und ich werde eure Herrin. Und als solche befehle ich dir, dich jetzt in den Schatten zu setzen und auszuruhen. Und den Mund zu halten.«
Nemeth strahlte noch breiter. »Aber eine Dienerin muss sich um das Wohl ihrer Herrin kümmern.«
Ohne Robins Antwort abzuwarten, drehte sie sich herum und war wie ein Wirbelwind verschwunden. Robin verspürte einen schwachen Anflug von Neid auf ihre kindliche Energie und Zähigkeit. Sie selbst würde jedem die Kehle durchschneiden, der innerhalb der nächsten drei oder vier Tage von ihr verlangte, auch nur noch einen einzigen Schritt zu tun. Aber sollte Nemeth sich ruhig austoben. Vielleicht waren die wenigen Stunden, die sie das noch konnte, der Rest ihrer Kindheit. Sie hatte nicht das Recht, sie ihr streitig zu machen.
Es verging nur eine kleine Weile, in der Robin einfach dasaß und in der Sonne döste, bis Nemeth zurückkam. Sie trug eine flache Schale mit Flusswasser in beiden Händen, die sie Robin voller Stolz hinhielt. Als Robin danach griff, musste sie feststellen, dass sie mehr Sand als Wasser enthielt und dieses zudem nicht besonders sauber war. Aber sie war entsetzlich durstig, und selbst wenn sie es nicht gewesen wäre - das Leuchten in Nemeths Augen hätte es ihr vollkommen unmöglich gemacht, irgendetwas anderes zu tun, als die Schale anzusetzen und mit wenigen Schlucken so weit zu leeren, bis der Sand zwischen ihren Zähnen zu knirschen begann. Das Wasser schmeckte nicht besonders gut. Wahrscheinlich hatte Nemeth es unterhalb der Stelle, wo die Kamele standen, geschöpft. Dennoch war es nach dem stundenlangen Marsch durch die glühende Wüstensonne eine solche Labsal, dass Robin fast enttäuscht war, als die Schale leer war.
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, fragte Nemeth: »Soll ich noch mehr holen?«
Robin schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Es ist nicht gut, wenn man zu viel auf einmal trinkt, weißt du? Vielleicht später, bevor wir weiterreiten.«
Eine Stimme hinter Robin sagte: »Aber du könntest gehen und uns ein paar frische Datteln pflücken, Kleines.«
Das Mädchen nickte eifrig und verschwand wie der Blitz.
Robin drehte den Kopf und blinzelte in das breite, alt aussehende Gesicht Harun al Dhins hinauf. Obwohl sie den ganzen Tag neben ihm marschiert war, fiel ihr erst jetzt auf, wie mitgenommen er wirkte. Auf seinen Wangen, die bislang immer sorgsam rasiert gewesen waren, zeigten sich graue Bartstoppeln. Sein Gesicht war ungeschminkt und er hatte nicht mehr viel von dem verkleideten Gecken, als der er bisher aufgetreten war. Viel deutlicher als bisher sah sie das Geflecht feiner Falten, das seine Augen umgab. Es kam Robin fast so vor, als habe die gnadenlose Wüstensonne die weichen Formen von seinem Gesicht geschmolzen, sodass nun zum ersten Mal der wahre Harun al Dhin darunter zum Vorschein kam.