Der Lärm, der Staub und die Menschenmassen auf den Straßen schienen plötzlich ganz weit. Shasta wurde rasch durch den Garten und durch eine dunkle Tür geführt. Der Ausrufer blieb draußen. Dann kam Shasta durch eine Halle, deren Steinfußboden sich unter seinen heißen Füßen herrlich kühl anfühlte, und schließlich ging es wieder eine Treppe hinauf. Einen Augenblick später stand er blinzelnd in einem hellen, großen, luftigen Raum mit weit geöffneten Fenstern, die alle nach Norden blickten. Auf dem Fußboden lag ein Teppich, in Farben, die schöner waren als alles, was er jemals gesehen hatte. Seine Füße versanken darin, als liefe er auf einem dicken Moosteppich. An den Wänden standen niedrige Sofas mit weichen Kissen. Der Raum war sehr belebt, und einige der Gestalten kamen Shasta ausgesprochen seltsam vor. Aber er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn die schönste Dame, die er jemals gesehen hatte, erhob sich, kam rasch auf ihn zu, umarmte und küßte ihn und sagte:
„O Corin, Corin, wie konntest du nur? Dabei stehen wir uns doch so nahe, seit deine Mutter gestorben ist! Was hätte ich wohl deinem königlichen Vater gesagt, wenn ich ohne dich heimgekommen wäre? Das wäre fast ein Anlaß zu einem Krieg zwischen Archenland und Narnia gewesen, obwohl diese Länder schon seit undenklichen Zeiten gut Freund miteinander sind. Das war schlimm von dir, mein Freund, sehr schlimm, uns so übel mitzuspielen!“
Offensichtlich, überlegte Shasta blitzschnell, hält man mich für einen Prinzen aus Archenland, wo das auch immer liegen mag. Und das müssen Narnianen sein. Ich frage mich allerdings, wo der wirkliche Corin steckt.
„Wo warst du, Corin?“ fragte die Dame, deren Hände noch immer auf Shastas Schultern ruhten.
„Ich – ich weiß nicht“, stammelte Shasta.
„Siehst du, Suse“, sagte der König. „Ich konnte auch kein Wort aus ihm herauskriegen – sei es nun wahr oder gelogen.“
„Eure Majestäten! Königin Suse! König Edmund!“ sagte eine Stimme: Und als Shasta sich umwandte, um den Sprecher anzuschauen, traf ihn fast der Schlag, denn es war eines dieser komischen Wesen, die er aus dem Augenwinkel heraus gesehen hatte, als er zur Tür hereingekommen war. Es war etwa so groß wie er selbst. Von der Hüfte an aufwärts sah es aus wie ein Mann, aber seine Beine waren behaart wie die einer Ziege. Sie waren auch geformt wie Ziegenbeine, und Ziegenhufe und einen Schwanz hatte das Wesen auch. Seine Haut war rot, sein Haar lockig, im Gesicht trug es einen kurzen Spitzbart und auf dem Kopf zwei kleine Hörner. Es war ein Faun, doch Shasta hatte noch nie etwas von einem Faun gehört. Wer das Buch Der König von Narnia gelesen hat, den interessiert es vielleicht, daß dies haargenau derselbe Faun war – er hieß Tumnus –, den Lucy, die Schwester von Königin Suse, damals am allerersten Tag traf, nachdem sie den Weg nach Narnia gefunden hatte. Doch er war inzwischen um einiges älter geworden, denn Peter, Suse, Edmund und Lucy regierten jetzt schon seit einigen Jahren als Könige und Königinnen von Narnia.
„Eure Majestäten“, sagte der Faun. „Der junge Prinz hat einen kleinen Sonnenstich. Schaut ihn euch nur an! Er ist ganz benommen. Er weiß nicht, wo er ist!“
Nun hörten natürlich alle sofort auf, mit Shasta zu schelten und ihn auszufragen. Sie umsorgten ihn, legten ihn auf ein Sofa und stopften ihm Kissen unter den Kopf. Dann gab man ihm aus einem goldenen Becher eisgekühlten Fruchtsaft zu trinken und befahl ihm, sich still zu verhalten.
So etwas war Shasta noch nie widerfahren. Er hätte nicht einmal zu träumen gewagt, jemals auf so einem bequemen Sofa zu liegen und einen solch köstlichen Saft zu trinken. Er überlegte sich noch immer, was wohl den anderen zugestoßen sein mochte und wie um alles in der Welt er wohl fliehen und sich bei den Gräbern mit ihnen treffen konnte. Und was mochte wohl passieren, wenn der richtige Corin wieder auftauchte?
Die Leute, die sich in diesem kühlen, luftigen Raum aufhielten, waren sehr interessant. Neben dem Faun gab es zwei Zwerge. Auch diese Art von Lebewesen hatte Shasta noch nie gesehen. Und einen sehr großen Raben gab es auch. Alle übrigen waren Menschen; Erwachsene, aber noch jung, und alle – die Frauen und die Männer – hatten hübschere Gesichter und schönere Stimmen als die meisten Bewohner Kalormens.
„Nun, hohe Schwester“, sagte der König zu Königin Suse. „Was meinst du? Wir sind nun schon volle drei Wochen hier in dieser Stadt. Hast du dich schon entschieden, ob du diesen Prinzen Rabadash heiraten willst oder nicht?“
Die Dame schüttelte den Kopf. „Nein, Bruder, ich werde ihn nicht heiraten“, sagte sie. „Nicht für alle Juwelen Tashbaans.“
Oh! dachte Shasta. Sie sind zwar König und Königin, aber sie sind nicht miteinander verheiratet. Es sind Geschwister.
„Fürwahr, Schwester“, sagte der König. „Ich wäre enttäuscht von dir, wenn du ihn erhört hättest. Ich muß dir sagen: Schon als der Botschafter des Tisroc zum ersten Mal wegen dieser Heirat nach Narnia kam – und auch später noch, als der Prinz bei uns in Feeneden zu Gast war –, hat es mich sehr erstaunt, daß du ihm so viel Gunst erwiesen hast.“
„Das war meine Torheit, Edmund“, entgegnete Königin Suse. „Und ich flehe dich an, Nachsicht mit mir zu üben. Doch als dieser Prinz bei uns in Narnia war, betrug er sich völlig anders als hier in Tashbaan. Ihr habt ja alle gesehen, welch großartige Leistungen er in dem großen Wettkampf vollbracht hat, den unser Bruder, König Peter der Prächtige, für ihn veranstalten ließ, und wie demütig und höflich er sich in diesen sieben Tagen betrug. Doch hier in seiner eigenen Stadt hat er ein anderes Gesicht gezeigt.“
„Ah!“ krächzte der Rabe. „Es gibt ein altes Sprichwort: Man muß den Bären in seiner Höhle gesehen haben, bevor man ein Urteil über ihn abgeben kann.“
„Sehr richtig, Patschfuß“, sagte einer der Zwerge. „Und ein anderes lautet: Komm und lebe mit mir, dann zeige ich dir, wer ich bin.“
„Ja“, meinte der König. „Jetzt wissen wir, wie er ist: Er ist ein übermäßig stolzer, verschwenderischer, grausamer und selbstherrlicher Tyrann.“
„Im Namen Aslans – dann sollten wir noch heute Tashbaan verlassen“, schlug Suse vor.
„Das ist leichter gesagt als getan, Schwester“, wandte Edmund ein. „Nun muß ich euch allen sagen, was mir die letzten beiden Tage und auch schon zuvor durch den Kopf gegangen ist. Peridan, sei so gut und schau an der Tür nach, ob dort auch kein Spion steht! Alles in Ordnung? Gut. Denn das, was ich jetzt sage, muß geheim bleiben.“
Alle sahen plötzlich sehr ernst aus. Königin Suse sprang auf und rannte zu ihrem Bruder hinüber. „O Edmund“, rief sie. „Was ist denn los? Du machst so ein schreckliches Gesicht!“
5. Prinz Corin
„Meine liebe Schwester“, sagte König Edmund. „Du mußt jetzt deinen ganzen Mut zusammennehmen. Denn ich sage dir klipp und klar, daß uns große Gefahr droht.“
„Wieso, Edmund?“ fragte die Königin.
„Ich glaube nicht, daß es so einfach sein wird, Tashbaan zu verlassen. Solange der Prinz Hoffnung hatte, dein Jawort zu erlangen, waren wir hochgeschätzte Gäste. Aber bei der Mähne des Löwen – ich glaube, sobald du ihn offen abweist, werden wir kaum mehr sein als gewöhnliche Gefangene.“
Einer der Zwerge pfiff leise vor sich hin.
„Ich habe Eure Majestäten gewarnt, ich habe euch gewarnt“, sagte Patschfuß der Rabe.
„Ich war heute morgen beim Prinzen“, fuhr Edmund fort. „Er ist leider gar nicht daran gewöhnt, seinen Willen nicht durchzusetzen. Er ist sehr erbost, daß du dir so lange Zeit nimmst und immerzu ausweichende Antworten gibst. Um ihn vorzubereiten, habe ich eine wegwerfende Bemerkung über die Wankelmütigkeit der Frauen gemacht und angedeutet, seine Werbung könne vergeblich sein. Er wurde böse und gefährlich. In jedem Wort, das er sprach, lag unter dem Deckmantel von höflichem Gerede eine klare Drohung.“