„Ja“, sagte Tumnus. „Als ich gestern mit dem Großwesir zu Abend speiste, war es genauso. Er fragte mich, wie mir Tashbaan gefiele. Ich konnte ihm nicht sagen, daß mir jeder einzelne Stein dieser Stadt zuwider ist, aber lügen mochte ich auch nicht. So sagte ich ihm also, daß mein Herz jetzt, Wo der Hochsommer naht, den kühlen Wäldern und den taufeuchten Hängen Narnias entgegenschlägt. Er setzte ein Lächeln auf, das nichts Gutes zu bedeuten hatte, und sagte: ‚Nichts wird dich daran hindern, dort wieder herumzutanzen, kleines Ziegenbein – vorausgesetzt natürlich, ihr laßt uns zum Tausch eine Braut für unseren Prinzen da.‘“
„Meint ihr, er würde mich mit Gewalt zur Frau nehmen?“ rief Suse.
„Das befürchte ich, Suse“, sagte Edmund.
„Aber wie kommt er nur darauf? Glaubt der Tisroc, unser Bruder, König Peter der Prächtige, ließe sich das bieten?“
„Sir“, sagte Peridan zum König. „So verrückt können die hier doch nicht sein. Glauben die denn, Narnia würde einem solchen Streich untätig zusehen?“
„Nun“, meinte Edmund. „Ich vermute, daß der Tisroc Narnia nur wenig fürchtet. Narnia ist ein kleines Land. Aber es ist auch ein freies Land und als solches dem Tisroc schon immer ein Dorn im Auge. Ihm wäre nichts lieber, als uns auszulöschen oder zu verschlucken. Als er es erstmals zuließ, daß der Prinz als dein Bewerber nach Feeneden kam, Schwester, da suchte er vielleicht nur einen Grund, gegen uns vorzugehen. Höchstwahrscheinlich wäre es ihm am liebsten, wenn er auf einen Schlag Archenland und Narnia bekäme.“
„Soll er es nur versuchen!“ meinte der zweite Zwerg. „Zur See sind wir so stark wie er. Und wenn er uns auf dem Landweg angreift, muß er erst einmal die Wüste durchqueren.“
„Wahr gesprochen, Freund“, entgegnete Edmund. „Aber bildet die Wüste einen sicheren Schutz? Was meint Patschfuß dazu?“
„Ich kenne die Wüste gut“, sagte der Rabe, „denn ich habe sie in meinen jüngeren Jahren kreuz und quer überflogen. Eines ist gewiß: wenn der Tisroc den Weg über die große Oase einschlägt, wird es ihm nicht gelingen, ein großes Heer nach Archenland zu führen. Sie könnten die Oase zwar am Ende eines Tagesmarsches erreichen, doch die Quellen dort führen nicht genug Wasser, um den Durst aller Soldaten und Tiere zu löschen. Aber es gibt noch einen anderen Weg.“
Shasta spitzte mehr und mehr die Ohren.
„Derjenige, der diesen Weg finden will“, sagte der Rabe, „muß von den Gräbern der alten Könige aus nordwestlich reiten, und zwar so, daß er die Doppelspitze des Berges Pire immer genau vor sich sieht. Dann wird er nach einem Tagesritt oder wenig mehr zum Eingang eines Felsentales kommen, der so eng ist, daß man ihn kaum als solchen erkennt. Wenn man in dieses Tal hineinblickt, ist weder Gras noch Wasser noch sonst etwas zu sehen. Doch wenn man hineinreitet, trifft man auf einen Fluß, an dessen Ufern man bis nach Archenland reiten kann.“
„Kennen die Kalormenen diesen Weg?“ fragte die Königin.
„Freunde“, sagte Edmund. „Wozu soll diese Unterhaltung führen? Wir wollen doch nicht wissen, ob Narnia oder Kalormen den Sieg davontrüge, wenn es zum Krieg zwischen den beiden Ländern käme. Wir wollen wissen, wie wir die Ehre der Königin und unser Leben retten und aus dieser teuflischen Stadt fliehen können.“
„Ich bin an allem schuld“, jammerte Suse und brach in Tränen aus. „Hätte ich nur niemals Feeneden verlassen. Wie glücklich waren wir doch, bevor diese Botschafter aus Kalormen kamen. Die Maulwürfe pflanzten gerade einen Obstgarten für uns ... oh ... oh.“ Und sie vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte.
„Mut Suse, nur Mut!“ mahnte Edmund. „Vergiß nicht ... Aber was ist nur los mit dir, Meister Tumnus?“ Denn der Faun packte sich an beiden Hörnern, als wolle er seinen Kopf festhalten. Dabei krümmte er sich vor und zurück, als hätte er Leibschmerzen.
„Sprecht mich nicht an, sprecht mich nicht an!“ rief Tumnus. Ich denke. Ich denke so sehr, daß ich kaum atmen kann. Wartet, wartet, ihr müßt warten!“
Einen Augenblick lang machten alle ein verwirrtes Gesicht und schwiegen. Dann schaute der Faun auf, atmete tief ein, wischte sich die Stirn und sagte: „Das einzige Problem ist, mit Vorräten beladen zu unserem Schiff hinunterzugelangen – ohne gesehen oder aufgehalten zu werden.“
„Ja“, sagte einer der Zwerge trocken. „Genau, wie es für den Bettler, der reiten will, das einzige Problem ist, daß er kein Pferd hat.“
„Warte, warte“, sagte Tumnus ungeduldig. „Wir brauchen nur einen Vorwand, uns heute zu unserem Schiff hinunterzubegeben und Vorräte an Bord zu schaffen.“
„So?“ meinte König Edmund zweifelnd.
„Tja“, fuhr der Faun fort. „Wie wäre es denn, wenn Eure Majestäten den Prinzen für morgen abend zu einem großen Fest auf unserer Galeere, der Kristallpracht, einlüden? Man müßte die Einladung so freundlich wie möglich abfassen, ohne die Ehre der Königin zu verletzen, damit der Prinz Hoffnung schöpft und meint, sie sei im Begriff, sich erweichen zu lassen.“
„Ein sehr guter Ratschlag“, krächzte der Rabe.
„Und dann“, fuhr Tumnus aufgeregt fort, „dann fiele es überhaupt nicht auf, wenn wir zum Schiff hinuntergingen, um Vorbereitungen für unsere Gäste zu treffen. Einige von uns müßten sich zum Basar begeben und jeden Minim bei den Obst- und Zuckerwerkshändlern und bei den Weinverkäufern ausgegeben – geradeso, als gäben wir wirklich ein Fest. Dann bestellen wir Zauberer und Jongleure und Tänzerinnen und Flötenspieler, alle für morgen abend.“
„Ich verstehe“, sagte König Edmund und rieb sich die Hände.
„Dann“, erklärte Tumnus, „dann begeben wir uns heute abend alle an Bord des Schiffes. Und sobald es dunkel genug ist ...“
„Setzen wir die Segel und machen die Ruder klar ...!“ ergänzte der König.
„Und fahren hinaus aufs Meer!“ rief Tumnus. Er machte einen Luftsprung und begann zu tanzen.
„Und richten unsere Nasen gen Norden“, sagte der erste Zwerg.
„Und fahren heim. Hoch lebe Narnia und der Norden!“ ergänzte der andere.
„Und am nächsten Morgen wacht der Prinz auf und stellt fest, daß die Vögel ausgeflogen sind!“ fügte Peridan hinzu und klatschte in die Hände.
„O Meister Tumnus, lieber Meister Tumnus!“ rief die Königin. Sie griff nach seinen Händen und tanzte mit ihm im Kreis herum. „Du hast uns alle gerettet.“
„Der Prinz wird uns verfolgen“, wandte einer der Lords ein.
„Das macht mir die geringsten Sorgen“, erklärte Edmund. „Ich habe alle Schiffe gesehen, die im Fluß liegen, und kein großes Kriegsschiff und auch keine schnelle Galeere war dabei. Soll er uns doch verfolgen! Die Kristallpracht kann jedes Schiff versenken, das er uns hinterherschickt – wenn es uns überhaupt einholt!“
„Sir“, sagte der Rabe. „Uns wird kein besserer Plan einfallen als der des Fauns, selbst wenn wir uns sieben Tage lange beraten. Aber bevor die Eier gelegt werden, muß man das Nest bauen, wie wir Vögel sagen. Das heißt, daß wir essen und uns sofort an die Arbeit machen sollten.“
Nach diesen Worten erhoben sie sich, die Türen wurden geöffnet, und alle traten zur Seite, um dem König und der Königin den Vortritt zu lassen. Shasta wußte nicht, was er tun sollte, aber Tumnus sagte zu ihm: „Bleibt hier liegen, Hoheit, und ich werde Euch in ein paar Minuten einen kleinen Schmaus bringen. Ihr braucht Euch nicht zu rühren, bevor wir uns einschiffen.“ Shasta legte den Kopf wieder auf die Kissen zurück, und schon bald war er allein.
Das ist ja schrecklich, dachte Shasta. Er war keinen einzigen Augenblick lang auf die Idee gekommen, diesen Narnianen die Wahrheit zu sagen und sie um Hilfe zu bitten. Da er von einem hartherzigen, geizigen Mann wie Arashin aufgezogen worden war, war es ihm zu einer festen Angewohnheit geworden, den Erwachsenen – wenn irgend möglich – nichts zu erzählen. Und er dachte sich, daß der König ja vielleicht zu den beiden Pferden freundlich sein würde, weil es sich um sprechende Tiere aus Narnia handelte, wohingegen er Aravis sicher hassen würde, weil sie Kalormenin war. Vielleicht verkaufte er sie als Sklavin oder schickte sie zu ihrem Vater zurück. Was ihn selbst betraf, so dachte er: Jetzt kann ich ihnen auf keinen Fall mehr sagen, daß ich nicht Prinz Corin bin. Ich habe alle ihre Pläne mitgehört. Wenn sie erfahren, daß ich nicht zu ihnen gehöre, lassen sie mich nie mehr lebendig aus diesem Haus hinaus, weil sie fürchten, ich würde sie an den Tisroc verraten. Dann bringen sie mich um. Und wenn der richtige Corin auftaucht, kommt alles ans Tageslicht. Und dann bringen sie mich sowieso um!