Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun? fragte er sich unentwegt. Was ... ach, da kommt das kleine ziegenartige Vieh wieder.
Der Faun kam mit einem Tablett in den Händen tänzelnd hereingetrottet. Er stellte es auf einen mit Einlegearbeiten verzierten Tisch neben Shastas Sofa und setzte sich mit gekreuzten Ziegenbeinen daneben auf den Teppich.
„So, kleiner Prinz“, sagte er. „Nehmt ein herzhaftes Mahl ein. Es wird Euer letztes sein in Tashbaan.“
Für ein kalormenisches Mahl war es wirklich ausgezeichnet. Shasta schmeckte es jedenfalls vorzüglich. Da gab es Hummer und Salat, mit Mandeln und Trüffeln gefülltes Wildbret und ein köstliches Gericht aus Hühnerleber, Reis, Rosinen und Nüssen. Des weiteren waren da kühle Melonen, Stachelbeerpudding und verschiedene Sorten Eiscreme. Und eine kleine Karaffe mit Wein.
Während Shasta aß, redete der kleine Faun, der dachte, Shasta sei noch immer von seinem Sonnenstich umnebelt, ununterbrochen über die schöne Zeit, die ihm bevorstand, wenn sie alle nach Hause zurückkehrten. Er redete über Prinz Corins guten alten Vater, König Lune von Archenland, und das kleine Schloß, in dem er diesseits des Passes an den südlichen Hängen des Gebirgszuges lebte. „Und vergeßt nicht“, sagte Tumnus, „daß Ihr zu Eurem nächsten Geburtstag Eure erste Rüstung und Euer erstes Streitpferd bekommt. Und dann werdet Ihr den berittenen Zweikampf mit der Lanze lernen. König Peter hat Eurem königlichen Vater versprochen, Euch – wenn nichts dazwischenkommt – in Feeneden höchstpersönlich zum Ritter zu schlagen. In der Zwischenzeit werden zwischen Narnia und Archenland über die Berge hinweg viele Besuche ausgetauscht. Hoffentlich habt Ihr Euer Versprechen nicht vergessen, beim Sommerfest eine Woche bei mir zu verbringen. Dann entzünden wir Freudenfeuer, und die Faune und die Dryaden werden ganze Nächte hindurch im tiefsten Wald tanzen, und – wer weiß – vielleicht sehen wir sogar Aslan selbst!“
Als das Mahl vorüber war, befahl der Faun, Shasta solle ruhig liegenbleiben. „Es könnte Euch auch nicht schaden, ein wenig zu schlafen“, fügte er hinzu. „Ich werde Euch frühzeitig wecken, bevor wir an Bord gehen. Und dann geht es in die Heimat. Auf nach Narnia und in den Norden!“
Nun da Shasta mit sich und seinen Gedanken allein war, hoffte er inständig, der richtige Prinz Corin möge nicht auftauchen und man möge statt dessen ihn mit dem Schiff nach Narnia mitnehmen. Ein kleines bißchen Sorgen machte er sich zwar um Aravis und Bree, die bei den Gräbern auf ihn warteten. Aber dann sagte er sich: Nun, was kann ich daran schon ändern? Und: Sowieso ist sich Aravis zu gut, um mit mir zusammen zu reisen, also kann sie von mir aus allein gehen. Gleichzeitig konnte er nicht umhin zu denken, wieviel schöner es wäre, auf dem Schiff nach Narnia zu fahren, anstatt sich durch die Wüste zu quälen. Und unter diesen – zugegeben – nicht sehr mitfühlenden Gedanken schlief er ein.
Ein lautes Klirren weckte ihn. Er sprang vom Sofa und riß die Augen auf. Daran, wie sich das Zimmer verändert hatte, erkannte er, daß er mehrere Stunden geschlafen haben mußte. Eine teure Prozellanvase, die auf dem Fensterbrett gestanden hatte, lag in etwa dreißig Scherben auf dem Fußboden. Aber all das regte ihn kaum auf. Was ihn aufregte, waren zwei Hände, die von draußen das Fensterbrett umklammerten. Sie packten immer fester zu, bis die Fingerknöchel ganz weiß wurden, und dann tauchten Kopf und Schultern auf. Einen Augenblick später saß ein Junge in Shastas Alter rittlings auf dem Fensterbrett.
Shasta hatte sich noch nie im Spiegel gesehen. Selbst wenn er sich schon einmal gesehen hätte, wäre ihm vielleicht nicht aufgefallen, daß der andere Junge normalerweise fast genauso aussehen mußte wie er selbst. In diesem Augenblick konnte man allerdings nicht so recht sehen, wie er normalerweise aussehen mochte. Er hatte nämlich das allerblaueste Auge, das ihr jemals gesehen habt, ein Zahn war ausgeschlagen, seine Kleider waren zerfetzt und schmutzig und sein Gesicht mit Blut und Schlamm beschmiert.
„Wer bist du?“ fragte der Junge flüsternd.
„Bist du Prinz Corin?“ fragte Shasta.
„Ja, natürlich“, entgegnete der andere. „Aber wer bist du?“
„Ich bin niemand, ich meine, ich bin niemand Besonderer“, erklärte Shasta. „König Edmund hat mich auf der Straße entdeckt und hat mich für dich gehalten. Vermutlich sehen wir uns ähnlich. Kann ich auf dem gleichen Weg hinaussteigen, auf dem du hereingekommen bist?“
„Ja, wenn du gut klettern kannst“, entgegnete Corin. „Aber warum hast du es denn so eilig? Also ich finde, wir müßten es feiern, daß man dich mit mir verwechselt hat.“
„Nein, nein“, wehrte Shasta ab. „Jetzt, wo du da bist, muß ich schnellstens weg. Es wäre fürchterlich, wenn Tumnus zurückkäme und uns beide hier fände. Ich mußte so tun, als wäre ich du. Und ihr werdet noch heute abend Tashbaan verlassen – heimlich. Wo warst du nur die ganze Zeit?“
„Ein Junge auf der Straße hat einen üblen Witz über Königin Suse gemacht“, erklärte Prinz Corin. „Deshalb habe ich ihn zu Boden geschlagen. Er rannte heulend in ein Haus und schickte seinen großen Bruder. Also mußte ich den großen Bruder ebenfalls niederschlagen. Dann haben mich alle verfolgt, bis wir auf einige Wachposten trafen. Also kämpfte ich mit den Wachposten, und die haben mich zu Boden geschlagen. Inzwischen wurde es schon dunkel. Dann nahmen mich die Wachposten mit, um mich irgendwo einzusperren. Also fragte ich sie, ob sie Lust auf einen Krug Wein hätten, und sie sagten, sie hätten nichts dagegen. Also ging ich mit ihnen zu einem Weinhändler und kaufte ihnen Wein. Sie setzten sich alle hin und tranken, bis sie einschliefen. Ich dachte, es sei Zeit zu verschwinden, also stahl ich mich leise fort. Dann traf ich den ersten Jungen wieder, der mit dem ganzen Theater angefangen hatte. Also schlug ich ihn noch einmal zu Boden. Dann kletterte ich an der Regenrinne eines Hauses aufs Dach und blieb dort still liegen, bis es heute morgen hell wurde. Da machte ich mich auf den Rückweg. Gibt es hier irgend etwas zu trinken?“
„Nein, ich habe alles ausgetrunken“, sagte Shasta. „Und jetzt zeigst du mir, wie du hereingekommen bist. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Du legst dich besser auf das Sofa und tust so ... ach, das habe ich ganz vergessen. Das geht ja gar nicht, mit all deinen Schrammen und dem blauen Auge. Du mußt ihnen einfach die Wahrheit sagen, wenn ich erst einmal weg bin.“
„Was hast du denn sonst erwartet?“ fragte der Prinz ärgerlich. „Wer bist denn überhaupt du?“
„Dazu ist keine Zeit“, flüsterte Shasta aufgeregt. „Ich bin, glaube ich, ein Narniane; auf jeden Fall komme ich aus dem Norden. Aber ich habe immer in Kalormen gelebt. Ich bin auf der Flucht durch die Wüste, mit einem sprechenden Pferd namens Bree. Und jetzt rasch! Wie komme ich hier weg?“
„Du läßt dich von diesem Fenster auf das Verandadach fallen. Aber vorsichtig, auf den Zehenspitzen, sonst hört man dich. Dann wendest du dich nach links und steigst auf die Mauer, sofern du einigermaßen klettern kannst. Dann gehst du auf der Mauer entlang bis zur Ecke. Dort läßt du dich auf den Abfallhaufen plumpsen, der außerhalb der Mauer liegt, und dann hast du es geschafft.“