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„Vielen Dank“, sagte Shasta, der schon auf dem Fenstersims saß. Die beiden Jungen schauten sich in die Augen und stellten plötzlich fest, daß sie Freunde waren.

„Auf Wiedersehen“, sagte Corin. „Und alles Gute. Ich hoffe, du schaffst es.“

„Auf Wiedersehen“, sagte Shasta ebenfalls. „Meine Güte, da hast du aber wirklich Abenteuer hinter dir!“

„Mit deinen verglichen sind sie nicht der Rede wert“, sagte der Prinz. „Und jetzt spring – aber vorsichtig. Ich hoffe, wir treffen uns in Archenland“, fügte er hinzu, während Shasta sich hinunterließ. „Geh zu meinem Vater, König Lune, und sag ihm, du seist ein Freund von mir. Paß auf, ich höre jemanden kommen.“

6. Shasta bei den Gräbern

Shasta rannte leichtfüßig auf Zehenspitzen übers Dach, das sich unter seinen nackten Füßen heiß anfühlte. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er auf die Mauer geklettert war. Als er schließlich an der Ecke ankam, sah er unter sich eine enge, übelriechende Gasse, und wie Corin ihm gesagt hatte, lag außen an der Mauer ein Abfallhaufen. Bevor Shasta hinuntersprang, schaute er sich rasch um, weil er sehen wollte, wo er sich überhaupt befand. Offensichtlich hatte er jetzt die Spitze des Hügels überquert, auf dem Tashbaan lag. Vor ihm senkte sich die Stadt hinab, da lag ein Flachdach unter dem anderen, bis hinunter zu den Türmen und Zinnen der nördlichen Stadtmauer. Dahinter lag der Fluß, und jenseits vom Fluß schloß sich ein mit Gärten bedeckter Hang an. Und hinter den Gärten erblickte er etwas, was er noch nie zuvor gesehen hatte – eine riesige, gelbgraue Ebene, flach wie der unbewegte Ozean und endlos groß. Jenseits dieser Ebene sah er ganz in der Ferne einen blauen Höhenzug mit gezacktem Kamm, und einige der Spitzen waren weiß. Die Wüste! Die Berge! dachte Shasta.

Er ließ sich auf den Abfallhaufen plumpsen und begann abwärts zu trotten, so schnell das in der engen Gasse möglich war. Schon bald erreichte er eine breitere Straße, auf der mehr Leute unterwegs waren. Keiner kümmerte sich um den kleinen zerlumpten Jungen, der auf bloßen Füßen dahinrannte. Trotzdem hatte er Angst, bis er um eine Ecke bog und die Stadttore vor sich sah. Hier wurde er noch ein bißchen gerempelt und herumgeschubst, denn außer ihm wollten noch viele andere Menschen die Stadt verlassen. Die Menschenmassen drängten sich in einer langen Schlange durch das Stadttor und über die Brücke. Dort draußen, wo links und rechts das klare Wasser dahinströmte, war es nach dem Gestank, der Hitze und dem Lärm Tashbaans herrlich frisch.

Als Shasta schließlich am anderen Ende der Brücke angekommen war, stellte er fest, daß sich die Leute um ihn herum immer mehr verliefen. Alle schienen entweder nach rechts oder nach links am Flußufer entlangzugehen. Er selbst marschierte geradeaus auf einem zwischen den Gärten verlaufenden Weg, der nicht viel benutzt zu werden schien. Nach ein paar Schritten war er allein; nach ein paar weiteren war er oben am Hang angekommen. Dort blieb er stehen und riß die Augen auf. Es war, als hätte er das Ende der Welt erreicht. Ein paar Schritte vor ihm hörte ganz plötzlich das Gras auf. Statt dessen begann eine endlose Sandfläche, ähnlich wie am Meeresstrand, nur war der Sand etwas gröber. Dahinter ragten die Berge auf, die jetzt ferner schienen als zuvor. Zu seiner großen Erleichterung sah er etwa fünf Minuten des Weges zu seiner Linken die Gräber, genau wie Bree sie beschrieben hatte: eine große Anzahl verwitterter Steine in der Form von riesigen Bienenkörben, nur etwas schmäler. Sie sahen sehr dunkel und sehr beängstigend aus, denn hinter ihnen ging gerade die Sonne unter.

Shasta wandte das Gesicht nach Westen und trottete zu den Gräbern hinüber. Dabei hielt er angestrengt nach seinen Freunden Ausschau, doch die untergehende Sonne schien ihm in die Augen, und er konnte kaum etwas erkennen. Sowieso, dachte er, warten sie natürlich hinter dem letzten Grab und nicht davor, wo jeder sie von der Stadt aus sehen kann.

Etwa zwölf Gräber standen da. Jedes hatte einen niedrigen gewölbten Eingang, hinter dem es stockdunkel war. Die Gräber lagen unregelmäßig verstreut, und so dauerte es ewig lange, bis Shasta jedes einzelne umrundet hatte und sicher war, daß er keines ausgelassen hatte. Doch keiner von seinen Freunden war zu sehen.

Es war sehr still hier am Rand der Wüste, und jetzt war die Sonne ganz untergegangen.

Plötzlich kam von irgendwoher hinter ihm ein schreckliches Geräusch. Shasta biß sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Im nächsten Augenblick wurde ihm klar, was das sein mußte: es waren die Hörner Tashbaans, die das Schließen der Stadttore ankündigten. Jetzt, wo sich die Tore geschlossen hatten, war es völlig ausgeschlossen, daß sich die anderen noch an diesem Abend zu ihm gesellten. Entweder sind sie über Nacht in Tashbaan eingesperrt, dachte Shasta, oder sie sind ohne mich aufgebrochen. Dieser Aravis sieht das ganz ähnlich. Aber Bree würde das nicht tun. Bestimmt nicht – oder vielleicht doch?

Aber in bezug auf Aravis täuschte sich Shasta ganz gewaltig. Aravis war stolz, und sie war wohl auch ein wenig überheblich, aber sie war treu wie Gold und hätte nie einen Gefährten im Stich gelassen.

Jetzt, wo Shasta wußte, daß er die Nacht allein hier verbringen mußte, gefiel ihm dieser Ort immer weniger. Die riesigen, unbeweglichen Steingestalten sahen sehr ungemütlich aus. Er hatte sich die ganze Zeit über bemüht, nicht an Dämonen zu denken, aber jetzt gelang ihm das nicht mehr.

„Hilfe!“ schrie er plötzlich, denn in diesem Augenblick spürte er, wie etwas sein Bein berührte. Shasta war so entsetzt, daß er sich im ersten Moment nicht einmal rühren konnte. Im zweiten Moment tat er etwas sehr Vernünftiges. Er sah sich um. Und dann zersprang ihm vor Erleichterung fast das Herz. Es war nur eine Katze, die ihn da berührt hatte.

Es war zu dunkel, und Shasta konnte sie nicht genau sehen. Ihm fiel nur auf, daß sie groß war und einen majestätischen Eindruck machte. Sie sah aus, als hätte sie lange Jahre ganz allein zwischen den Gräbern verbracht. Ihre Augen sahen so aus, als wäre sie im Besitz von Geheimnissen, die sie nicht preisgeben wollte.

„Miezekatze“, sagte Shasta. „Ich nehme an, du bist keine sprechende Katze – oder etwa doch?“

Die Katze schaute ihn noch durchdringender an als zuvor. Dann setzte sie sich in Bewegung. Shasta ging hinterher. Sie führte ihn zwischen den Gräbern hindurch und hinaus in die Wüste. Dort setzte sie sich, den Schwanz um die Füße gerollt, kerzengerade hin, das Gesicht zur Wüste gewandt, in die Richtung, in der Narnia und der Norden lagen. Sie saß so regungslos, als hielte sie Ausschau nach einem Feind. Shasta legte sich neben sie, schmiegte sich mit dem Rücken an sie und wandte das Gesicht zu den Gräbern. Schon bald schlummerte er ein, doch selbst in seinen Träumen sorgte er sich noch, was wohl mit Bree, Aravis und Hwin geschehen sein mochte.

Plötzlich ließ ihn ein fremdartiger Laut hochfahren. Zugleich sah er, daß die Katze verschwunden war. Das erschreckte ihn noch mehr. Aber er schloß die Augen wieder und blieb ganz still liegen. Er wußte, wenn er sich aufsetzte und die Gräber und die Einsamkeit sah, würde seine Angst noch größer. Aber dann hörte er es wieder – es war ein rauher, durchdringender Schrei, der aus der Wüste kam. Jetzt setzte er sich auf und öffnete die Augen.

Der Mond schien strahlend hell. Die Gräber waren viel größer und lagen viel näher, als er gedacht hatte. Jetzt im Mondlicht waren sie ganz grau. Sie wirkten wie riesige Menschen, die ihre Köpfe und Gesichter unter einer grauen Robe verhüllten. Aber der Schrei war aus der anderen Richtung, von der Wüste her, gekommen. Shasta wandte den Gräbern den Rücken zu und schaute auf die weite Sandfläche hinaus. Wieder erklang der wilde Schrei.

Hoffentlich nicht schon wieder Löwen, dachte er. Es klang eigentlich gar nicht wie das Gebrüll der Löwen, das er in jener Nacht gehört hatte, als sie auf Hwin und Aravis gestoßen waren. Es waren die Schreie eines Schakals. Aber das wußte Shasta nicht.