„Dann wäre alles verloren“, sagte Aravis. Aber sie wußte auch keine bessere Lösung. „Ja. Wir müssen es riskieren. Wann können wir aufbrechen?“
„Oh, nicht heute abend“, erklärte Lasaraleen. „Auf keinen Fall. Heute abend findet ein großes Fest statt – ich muß mir jetzt gleich die Haare frisieren lassen –, und da ist im Palast alles taghell erleuchtet. Eine Unmenge von Leuten wird dasein! Wir müssen bis morgen abend warten.“
Das waren schlechte Nachrichten; aber Aravis war gezwungen, das Beste daraus zu machen. Der Nachmittag zog sich endlos lange hin. Aravis war sehr erleichtert, als Lasaraleen sich endlich auf den Weg zu dem Fest machte. Aravis hatte genug von ihrem Gekicher und Geplapper. Sie legte sich früh zu Bett. Es war wunderschön, wieder mit Kissen und Laken zu schlafen.
Doch auch der nächste Tag wollte kein Ende nehmen. Lasaraleen fing immer wieder von vorne an und erklärte Aravis, Narnia sei ständig von Schnee und Eis bedeckt und von Dämonen und Zauberern bewohnt. Sie fand, Aravis sei einfach verrückt, ausgerechnet nach Narnia zu wollen. „Und dann auch noch mit einem Bauernjungen!“ schalt Lasaraleen. Auch Aravis hatte viel darüber nachgedacht und war zu dem Schluß gekommen, eine Reise mit Shasta müsse eigentlich mehr Spaß machen als das Leben der Reichen in Tashbaan. Deshalb entgegnete sie: „Du vergißt, daß auch ich ein Niemand sein werde, wenn wir in Narnia ankommen – genau wie er. Außerdem habe ich es versprochen.“
Wenn ich mir vorstelle“, sagte Lasaraleen, die fast weinte, „daß du die Frau eines Großwesirs sein könntest, wenn du nur vernünftig wärst!“
Aravis ging nach draußen, um sich in Ruhe mit den Pferden zu unterhalten. „Kurz vor Sonnenuntergang bringt euch ein Pferdeknecht zu den Gräbern“, erklärte sie. „Aber jetzt ist Schluß mit den Packgäulen. Ihr werdet wieder gezäumt und gesattelt. Hwins Satteltaschen müssen mit Lebensmitteln vollgepackt werden, und du, Bree, du mußt eine gefüllte Wasserhaut tragen. Der Mann ist angewiesen, dafür zu sorgen, daß ihr euch jenseits der Brücke satt trinken könnt.“
„Und dann auf nach Narnia und in den Norden!“ flüsterte Bree. „Aber was machen wir, wenn Shasta nicht bei den Gräbern ist?“
„Dann warten wir natürlich“, meinte Aravis. „Ich hoffe, ihr hattet es schön gemütlich.“
„Ich stand bisher noch nie in einem Stall“, erklärte Bree. „Und falls der Gatte deiner albernen Freundin seinen ersten Pferdeknecht dafür bezahlt, den besten Hafer zu besorgen, dann wird er von dem Mann meiner Meinung nach betrogen.“
Aravis und Lasaraleen nahmen ihr Abendessen in der Säulenhalle ein.
Etwa zwei Stunden später waren sie bereit zum Aufbruch. Aravis war gekleidet wie ein höhergestelltes Sklavenmädchen einer reichen Familie. Vor dem Gesicht trug sie einen Schleier. Falls man sie unterwegs befragen sollte, hatten sie vereinbart, daß Lasaraleen sagen sollte, Aravis sei eine Sklavin, die sie einer der Prinzessinnen zum Geschenk machen wollte.
Die beiden Mädchen machten sich zu Fuß auf den Weg, und schon nach ein paar Minuten waren sie an den Palasttoren angekommen. Hier standen natürlich Soldaten und hielten Wache, doch der Offizier kannte Lasaraleen gut und befahl seinen Männern, strammzustehen und zu salutieren. Rasch gingen die beiden durch die Halle des schwarzen Marmors und weiter durch die Halle der Säulen, die Halle der Statuen und die Kolonnaden, vorbei an den großen, gehämmerten Kupfertoren des Thronsaales. All das, was sie im Dämmerlicht der Lampen erkennen konnten, war so überaus prächtig, daß man es gar nicht beschreiben kann.
Gleich darauf traten sie in den Garten, der sich über unzählige Terrassen hinabsenkte. Sie durchquerten ihn und gingen hinüber zum alten Palast. Es war inzwischen fast dunkel geworden, und jetzt fanden sie sich in einem Gewirr von Gängen wieder, die nur von den spärlichen, an der Wand befestigten Fackeln beleuchtet waren. An einer Stelle, wo man sowohl nach links als auch nach rechts gehen konnte, blieb Lasaraleen stehen.
„Geh weiter!“ flüsterte Aravis, die schreckliches Herzklopfen hatte, weil sie immer noch befürchtete, sie könne an der nächsten Ecke auf ihren Vater stoßen.
„Ich frage mich ...“, sagte Lasaraleen. „Ich bin nicht ganz sicher, wie wir hier gehen müssen. Ich glaube, wir müssen nach links. Ja, ich bin fast sicher. Oh, das macht Spaß!“
Sie wandten sich nach links in einen kaum beleuchteten Gang, der kurz danach auf steinerne Stufen mündete, die abwärts führten.
„Wir sind richtig“, sagte Lasaraleen. „Jetzt weiß ich es wieder. An diese Stufen erinnere ich mich.“ Doch in diesem Augenblick tauchte vor ihnen ein Licht auf, das sich bewegte. Eine Sekunde später waren zwei Männer zu erkennen die mit langen, brennenden Kerzen einen königlichen Zug anführten. Aravis spürte, wie Lasaraleen nach ihrem Arm griff – so fest, daß es weh tat. Aravis wunderte sich, daß Lasaraleen solche Angst hatte, wo der Tisroc doch angeblich so gut Freund mit ihr war. Aber zum Nachdenken blieb ihr keine Zeit.
„Da ist eine Tür“, flüsterte Lasaraleen. „Rasch!“
Sie schlüpften hinein und schlossen die Tür vorsichtig hinter sich. Es war stockdunkel. Aravis konnte am Atmen ihrer Freundin hören, daß diese vor Angst außer sich war.
„Tash möge uns beschützen!“ flüsterte Lasaraleen. „Was sollen wir nur tun, wenn er hier hereinkommt? Wo können wir uns verstecken?“
Unter ihren Füßen spürten sie einen weichen Teppich. Sie tasteten sich weiter in den Raum hinein. Plötzlich stießen sie gegen ein Sofa.
„Komm, wir verstecken uns dahinter“, flüsterte Lasaraleen. „Oh, wären wir nur nicht hierhergekommen!“
Zwischen dem Sofa und der mit Vorhängen bespannten Wand war ein wenig Platz. So gut es ging, kauerten sie sich nebeneinander hin. Der eigene Atem erschien ihnen schrecklich laut, doch sonst war nichts zu hören.
„Meinst du, wir sind hier sicher?“ flüsterte Aravis so leise wie möglich.
„Ich – ich – glaube schon“, flüsterte Lasaraleen zurück. „Meine armen Nerven ...“ Und nun geschah etwas Schreckliches. Die Tür öffnete sich. Und dann wurde es hell. Und weil Lasaraleen soviel Platz brauchte, daß Aravis schon mehr neben als hinter dem Sofa hockte, mußte sie alles mit ansehen.
Zuerst kamen die beiden Sklaven herein. Sie stellten sich mit den Kerzen in der Hand zu beiden Seiten des Sofas auf.
Und das war gut so, denn jetzt, wo ein Sklave vor ihr stand und Aravis zwischen seinen Fersen hindurchlugte, konnte man sie nicht mehr so gut sehen. Dann kam ein alter, sehr fetter Mann mit einer komischen spitzen Kappe. Daran erkannte Aravis daß es der Tisroc sein mußte. Der unscheinbarste unter den Juwelen, die er trug, war mehr wert als alle Kleider und Waffen der narnianischen Edelleute zusammen genommen. Aber er war so fett und mit so vielen Fransen, Falten, Troddeln, Knöpfen, Quasten und Anhängern geschmückt, daß Aravis sich überlegte, um wieviel hübscher doch die narnianische Mode war. Hinter ihm kam ein großer junger Mann mit einem federn- und juwelengeschmückten Turban auf dem Kopf und einem Krummsäbel an der Seite, der in einer Perlmuttscheide steckte. Er schien sehr aufgeregt zu sein, und seine Augen und seine Zähne blitzten gefährlich im Licht der Kerzen. Als letzter kam ein kleiner, buckliger, runzliger alter Mann. Mit Schaudern stellte Aravis fest, daß es Ahoshta Tarkaan war, der eben ernannte Großwesir, dem sie vermählt werden sollte.
Als sich die Tür hinter den drei Männern geschlossen hatte, setzte sich der Tisroc mit einem zufriedenen Seufzer auf das Sofa. Der junge Mann blieb vor ihm stehen, und der Großwesir ließ sich auf Knie und Ellbogen sinken und verbeugte sich, bis sein Gesicht platt auf dem Teppich lag.