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„Euer Wille sei mir Befehl“, sagte der Großwesir. Er stand auf, verneigte sich und ging hinaus. Der Tisroc blieb noch immer auf dem Sofa sitzen, so daß Aravis schon befürchtete, er sei eingeschlafen. Doch schließlich erhob er seinen massigen Körper mit lautem Seufzen und knackenden Gelenken, bedeutete den Sklaven, mit den Kerzen vorauszugehen, und verließ das Zimmer. Hinter ihm schloß sich die Tür. Jetzt war es wieder stockdunkel, und die beiden Mädchen konnten aufatmen.

9. Durch die Wüste

„Wie schrecklich!“ wimmerte Lasaraleen. „Oh, Liebling, ich habe solche Angst. Ich zittere am ganzen Leib. Fühl nur!“

„Komm!“ sagte Aravis, die ebenfalls zitterte. „Sie sind zum neuen Palast zurückgegangen. Wenn wir erst einmal dieses Zimmer verlassen haben, sind wir in Sicherheit. Aber wir haben furchtbar viel Zeit verloren. Du mußt mich so schnell wie möglich zu der Wassertür hinunterbringen.“

„Liebling, das meinst du doch wohl nicht ernst!“ protestierte Lasaraleen. „Ich kann nicht – jetzt nicht. Meine armen Nerven. Wir müssen noch ein Weilchen hierbleiben. Dann gehen wir zurück.“

„Warum zurück?“ fragte Aravis.

„Ach, du verstehst nicht. Du hast kein Mitleid mit mir“, jammerte Lasaraleen und begann zu weinen.

Aravis faßte den Entschluß, daß jetzt nicht der richtige Augenblick war, Mitleid zu zeigen. „Hör mal!“ Sie packte Lasaraleen und schüttelte sie. „Wenn du noch einmal sagst, du wollest zurückgehen, und wenn du mich jetzt nicht sofort zu diesem Tor am Wasser bringst – weißt du, was ich dann tun werde? Dann renne ich auf den Gang hinaus und schreie. Und in diesem Fall erwischen sie uns alle beide.“

„Aber dann b-b-bringen sie uns um!“ jammerte Lasaraleen. „Hast du nicht gehört, was der Tisroc – möge er ewig leben – gesagt hat?“

„Doch. Aber lieber lasse ich mich umbringen, als diesen Ahoshta zu heiraten. Also komm jetzt.“

Schließlich mußte Lasaraleen nachgeben. Sie ging voraus die Stufen hinunter, dann durch einen weiteren Gang und hinaus ins Freie. Jetzt standen sie im Palastgarten, der sich auf vielen Terrassen bis hinunter zur Stadtmauer erstreckte. Der Mond schien strahlend hell. Leider hatte Aravis – wie das bei Abenteuern meistens so ist – zuviel Angst und zuwenig Zeit, um die Schönheit dieses Ortes richtig zu genießen. So gewann sie nur einen verschwommenen Eindruck von grauen Rasenflächen, leise glucksenden Springbrunnen und den langen schwarzen Schatten der Zypressen. Daran erinnerte sie sich aber noch Jahre später.

Als sie ganz unten angekommen waren und die Stadtmauer finster vor ihnen aufragte, zitterte Lasaraleen so sehr, daß es ihr nicht gelang, den Riegel des Tores zu öffnen. Also machte ihn Aravis selbst auf. Vor ihr lag endlich der Fluß, in dem sich das Mondlicht spiegelte. Ein kleiner Anlegesteg und mehrere Ruderboote waren zu erkennen.

„Leb wohl“, sagte Aravis. „Und vielen Dank. Tut mir leid, daß ich ein solches Biest war. Aber bedenke nur, wovor ich fliehe!“

„O Aravis, Liebling“, entgegnete Lasaraleen. „Willst du es dir nicht noch einmal überlegen? Jetzt, wo du gesehen hast, was für ein mächtiger Mann dieser Ahoshta ist?“

„Ein mächtiger Mann?“ sagte Aravis. „Ein gräßlicher Speichellecker ist er, der demjenigen noch schmeichelt, der ihn tritt, und sich dann hinterrücks rächt, indem er diesen entsetzlichen Tisroc anstachelt, den Tod seines Sohnes zu planen. Pfui Teufel! Lieber heirate ich den Küchenjungen meines Vaters!“

„O Aravis, Aravis! Wie kannst du nur so schreckliche Sachen sagen – und dann auch noch über den Tisroc – möge er ewig leben –, der doch ohne Fehl und Tadel ist!“

„Leb wohl!“ sagte Aravis. „Ich fand deine Kleider wunderschön. Und dein Haus auch. Dein Leben wird sicher prächtig verlaufen – aber mir würde es nicht gefallen. Schließ das Tor leise hinter mir!“

Sie riß sich aus der liebevollen Umarmung ihrer Freundin sprang in einen Kahn, legte ab und war schon einen Augenblick später in der Mitte des Flusses angelangt. Über ihr stand der riesige Mond, und weit, weit darunter im Wasser lag sein Ebenbild. Die Luft war frisch und kühl, und als sie sich dem anderen Ufer näherte, hörte sie den Ruf einer Eule. Ah! Das ist besser! dachte Aravis. Sie hatte immer auf dem Land gelebt, und jede Sekunde, die sie in Tashbaan verbracht hatte, war ihr zuwider gewesen.

Als sie an Land trat, war es um sie herum stockdunkel, weil die Bäume und die Böschung das Mondlicht abschirmten. Doch es gelang ihr, den gleichen Weg zu finden, den auch Shasta eingeschlagen hatte. So kam sie wie er an die Stelle, wo das Gras aufhörte und der Sand anfing. Wie er sah sie zu ihrer Linken die großen, schwarzen Gräber. Jetzt verließ sie der Mut, obwohl sie so ein tapferes Mädchen war. Angenommen, die anderen waren nicht da! Angenommen, die Dämonen erwarteten sie? Aber dann reckte sie das Kinn vor, streckte die Zungenspitze heraus und ging geradewegs auf die Gräber zu.

Doch noch bevor sie dort angekommen war, sah sie schon Bree, Hwin und den Pferdeknecht.

„Du kannst jetzt zu deiner Herrin zurückkehren“, sagte Aravis, die ganz vergessen hatte, daß das ja erst am nächsten Morgen möglich war, wenn die Stadttore wieder geöffnet wurden. „Hier ist etwas Geld für deine Mühe.“

„Euer Wille sei mir Befehl“, sagte der Pferdeknecht und machte sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf den Weg zur Stadt. Man brauchte ihm nicht zu sagen, er solle sich beeilen, auch er hatte sich Gedanken über die Dämonen gemacht.

Die nächsten paar Sekunden war Aravis damit beschäftigt, Hwin und Bree auf die Nase zu küssen und am Nacken zu tätscheln, geradeso, als wären die beiden ganz gewöhnliche Pferde.

„Da kommt Shasta! Dem Löwen sei gedankt!“ rief Bree.

Aravis sah sich um – und tatsächlich, da war Shasta, der gleich aus seinem Versteck gekrochen war, als er den Pferdeknecht weggehen sah.

„Nun dürfen wir keine Zeit mehr verlieren“, erklärte Aravis. Rasch erzählte sie von Prinz Rabadashs Plänen.

„Verräterische Hunde!“ empörte sich Bree, schüttelte die Mähne und stampfte mit dem Huf. „Ein hinterhältiger Angriff in Friedenszeiten, ohne jegliche Herausforderung! Aber wir werden ihm den Hafer versalzen. Wir werden vor ihm dort sein.“

„Werden wir das schaffen?“ fragte Aravis, während sie sich auf Hwins Rücken schwang.

„Broooh-hooh!“ schnaubte Bree. „Hinauf mit dir, Shasta! Ob wir das schaffen? Natürlich! Und noch dazu mit einem schönen Vorsprung!“

„Rabadash sagte, er wolle gleich aufbrechen“, sagte Aravis.

„Das ist Menschengeschwätz“, entgegnete Bree. „Man kann keine zweihundert Mann in so kurzer Zeit mit Wasser, Lebensmitteln und Waffen versorgen und zweihundert Pferde satteln. So: in welche Richtung müssen wir reiten? Direkt nach Norden?“

„Nein“, meinte Shasta. „Ich kenne die Richtung. Ich habe sie markiert. Erklären werde ich es euch später. Wir müssen uns ein wenig nach links halten. Ach ja, da ist der Pfeil!“

„So“, sagte Bree. „Einen Tag und eine Nacht lang zu galoppieren, wie es in Büchern steht, ist unmöglich. Wir müssen rasch traben und immer wieder ein kleines Stück im Schritt gehen. Und währenddessen steigt ihr beiden ab und geht nebenher. So, bist du bereit, Hwin? Auf geht’s nach Narnia und in den Norden!“

Zuerst war der Ritt ganz herrlich. Die Nacht war inzwischen so weit fortgeschritten, daß der Sand die Hitze weitgehend abgegeben hatte, die er während des Tages speicherte. Die Luft war kühl, frisch und klar. So weit sie sehen konnten, schimmerte der Sand im Mondlicht wie eine glatte Wasseroberfläche oder wie ein großes, silbernes Tablett. Abgesehen vom Hufschlag der beiden Pferde war nichts zu hören. Shasta wäre fast eingeschlafen, hätte er nicht von Zeit zu Zeit absteigen und zu Fuß gehen müssen.

So vergingen Stunden, bis schließlich der Mond untergegangen war. Dann ritten sie endlos lange in völliger Dunkelheit dahin. Schließlich war es soweit, daß Shasta plötzlich Brees Nacken und Kopf etwas deutlicher vor sich sehen konnte; und ganz allmählich tauchte um ihn herum die graue Ebene aus der Dunkelheit auf. Alles sah vollkommen leblos aus, es schien fast wie eine tote Welt zu sein. Shasta war schrecklich müde, er fror, und seine Lippen waren ausgetrocknet. Die ganze Zeit über hörte man das Knarren des Leders, das Klirren der Beschläge und das Klappern der Hufe.