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Shasta ging auf die Wiese vor der Hütte. Er wollte allein sein, um Klarheit in seinen Kopf zu bekommen. Zum einen war sein jetziges Leben kaum besser als das eines Sklaven. Vielleicht behandelte ihn der mächtige Fremde besser als Arashin. Zum zweiten war er ganz aufgeregt über diese Geschichte, daß ihn Arashin in einem Boot gefunden hatte. Gleichzeitig verspürte er Erleichterung. Er hatte sich immer wieder vergeblich bemüht, den Fischer zu lieben. Er wußte, daß ein Junge seinen Vater eigentlich lieben mußte. Und nun stellte sich heraus, daß er mit dem Fischer gar nicht verwandt war. Damit war eine große Last von seiner Seele genommen. Potzblitz! Ich könnte ja alles mögliche sein! dachte er. Vielleicht bin ich der Sohn eines Tarkaan – oder der Sohn des Tisroc (möge er ewig leben) – oder der eines Gottes!

Rasch senkte sich die Dämmerung herab. Ein oder zwei Sterne standen schon am Himmel, aber im Westen lag noch der letzte Widerschein des Sonnenuntergangs. Ganz in der Nähe graste das lose an einen Eisenring am Eselstall angebundene Pferd des Fremden. Shasta schlenderte hinüber und tätschelte es am Hals. Das Pferd achtete nicht auf Shasta und fuhr fort, Gras zu rupfen.

Eben kam Shasta noch ein Gedanke. „Wenn ich nur wüßte, was für ein Mann dieser Tarkaan ist“, sagte er laut. „Wie schön wäre es doch, wenn er ein guter Mann wäre. Manche Sklaven im Haus eines mächtigen Herrn haben so gut wie gar nichts zu tun. Sie tragen wunderschöne Kleider und essen jeden Tag Fleisch. Vielleicht nimmt er mich in den Krieg mit, und ich rette ihm in einer Schlacht das Leben. Und dann läßt er mich frei, nimmt mich an Sohnes Statt an und schenkt mir einen Palast, einen Streitwagen und eine Rüstung. Aber geradeso gut könnte er auch ein schrecklicher und grausamer Mann sein. Vielleicht schickt er mich in Ketten auf die Felder zur Arbeit. Wenn ich nur wüßte, wie er ist. Aber woher soll ich das erfahren? Ich wette, sein Pferd weiß es.“

Das Pferd hatte den Kopf gehoben. Shasta streichelte seine samtweiche Nase und sagte: „Wenn du nur reden könntest, Alterchen.“

Und dann dachte er einen Augenblick lang, er müsse träumen, denn mit leiser, aber ganz klarer Stimme sagte das Pferd: „Aber das kann ich.“

Shasta starrte in die riesigen Pferdeaugen. Seine eigenen Augen wurden vor Staunen fast genauso groß.

„Aber wo um alles in der Welt hast du bloß sprechen gelernt?“ fragte er.

„Pst! Nicht so laut!“ entgegnete das Pferd. „Dort, wo ich herkomme, können fast alle Tiere sprechen.“

„Wo ist das?“ wollte Shasta wissen.

„In Narnia“, antwortete das Pferd. „Im glücklichen Land Narnia – dem Land der Heidekrauthöhen und der Thymianebenen, dem Land der vielen Flüsse, der rauschenden Schluchten, der bemoosten Höhlen und der tiefen Wälder, in denen die Hämmer der Zwerge hallen. O süße Luft Narnias! Eine Stunde in Narnia wiegt tausend Jahre in Kalormen auf.“ Das Pferd brach mit einem Wiehern ab, das sich wie ein Seufzer anhörte.

„Wie bist du denn hierher nach Kalormen gekommen?“ fragte Shasta.

„Ich wurde entführt“, erklärte das Pferd. „Oder gestohlen oder gefangengenommen – wie man es auch immer nennen mag. Ich war damals noch ein Fohlen. Meine Mutter hatte mich davor gewarnt, über die südlichen Hänge nach Archenland hinein und noch weiter zu streifen, aber ich wollte nicht hören. Bei der Mähne des Löwen – ich habe für meine Torheit bezahlt! All diese Jahre war ich ein Sklave der Menschen, mußte mein wahres Gesicht verbergen und so tun, als wäre ich stumm und geistlos wie die Pferde in Kalormen.“

„Warum hast du ihnen denn nicht gesagt, wer du bist?“

„So dumm bin ich nun auch wieder nicht. Wenn sie herausgefunden hätten, daß ich sprechen kann, hätten sie mich auf Jahrmärkten vorgeführt und mich noch viel besser bewacht. Damit wäre meine letzte Möglichkeit dahin gewesen, eines Tages zu fliehen.“

„Und warum ...“, begann Shasta, aber das Pferd unterbrach ihn.

„Wir dürfen die Zeit nicht mit unnützen Fragen verschwenden. Du willst wissen, was für ein Mensch mein Herr, der Tarkaan Anradin, ist. Nun – er ist böse. Mich behandelt er nicht allzu schlecht, weil ein Streitroß zu teuer ist, als daß man es mißhandelt. Aber an deiner Stelle würde ich lieber noch heute sterben, als morgen ein Sklave in seinem Haus zu sein.“

„Dann laufe ich lieber weg“, sagte Shasta, der bleich geworden war.

„Ja, das wäre am besten“, sagte das Pferd. „Aber warum läufst du nicht mit mir zusammen weg?“

„Willst du denn auch wegrennen?“ fragte Shasta.

„Ja, wenn du mit mir kommst“, antwortete das Pferd. „Das ist eine gute Gelegenheit für uns beide. Wenn ich nämlich ohne Reiter weglaufe, dann sagt jeder, der mich sieht: ‚Aha, ein entlaufenes Pferd‘ und macht sich daran, mich zu verfolgen, so schnell er nur kann. Mit einem Reiter könnte ich es vielleicht schaffen. Da wärst du mir also eine Hilfe. Andererseits kommst du auf deinen beiden Beinen auch nicht allzuweit, bevor sie dich einholen. Was für armselige Beine die Menschen doch haben! Wenn du aber auf mir sitzt, dann bist du schneller als jedes Pferd in diesem Land. Und da könnte ich dir helfen. Da fällt mir ein – ich nehme doch an, du kannst reiten?“

„O ja, natürlich“, entgegnete Shasta. „Zumindest habe ich schon auf dem Esel geritten.“

Worauf hast du geritten?“ gab das Pferd angewidert zurück. Das war es zumindest, was das Pferd hatte sagen wollen. In Wirklichkeit klang es eher wie ein Wiehern: „... geri-hi-hi-hi-hi.“ Sprechende Pferde fallen immer ein wenig in die normale Pferdesprache zurück, wenn sie ärgerlich sind.

„In anderen Worten“, fuhr es fort, „du kannst also nicht reiten. Das ist ein großer Nachteil. Ich muß es dir unterwegs beibringen. Kannst du wenigstens fallen, wenn du schon nicht reiten kannst?“

„Das kann doch wohl jeder, nehme ich an“, sagte Shasta.

„Ich meine – kannst du herunterfallen und dann ohne eine Träne zu vergießen wieder aufsitzen? Nur um dann gleich wieder herunterzufallen? Und all das, ohne Angst vor dem Herunterfallen zu bekommen?“

„Ich – ich will es versuchen“, sagte Shasta.

„Armes kleines Vieh“, sagte das Pferd etwas freundlicher. „Ich habe vergessen, daß du ja noch ein Fohlen bist. Wir werden mit der Zeit schon noch einen guten Reiter aus dir machen. So – wir dürfen erst aufbrechen, wenn die beiden in der Hütte eingeschlafen sind. In der Zwischenzeit können wir Pläne schmieden. Mein Tarkaan ist auf dem Weg nach Norden in die große Stadt Tashbaan, zum Hof des Tisroc ... “

„Oje“, warf Shasta erschrocken ein. „Müßtest du nicht sagen ‚Möge er ewig leben‘?“

„Warum denn?“ wollte das Pferd wissen. „Ich bin ein freier Narniane. Warum soll ich reden wie die Sklaven und die Narren? Ich will nicht, daß er ewig lebt, und ich weiß auch, daß er nicht ewig leben wird, ob ich das nun will oder nicht. Außerdem sehe ich, daß auch du aus dem freien Norden stammst. Also sollten wir beide dieses südliche Geschwätz seinlassen! Und nun zu unserem Plan. Wie ich schon sagte, ist mein Mensch auf dem Weg nach Tashbaan im Norden.“

„Bedeutet das, wir sollten besser nach Süden reiten?“

„Ich glaube nicht“, entgegnete das Pferd. „Weißt du, er meint ja, ich sei stumm und ohne Verstand, wie seine anderen Pferde. Wenn ich das wirklich wäre, dann liefe ich nach Hause zu meinem Stall und zu meinem Futtertrog, zurück zu seinem Palast, der zwei Tagemärsche weit von hier im Süden liegt. Dort wird er mich suchen. Er ließe es sich nie träumen, ich könnte mich allein nach Norden aufmachen. Sowieso wird er vermutlich denken, irgend jemand, der uns durch das letzte Dorf reiten sah, sei uns hierher gefolgt, um mich zu stehlen.“

„Hurra!“ rief Shasta. „Dann gehen wir nach Norden. Dort wollte ich immer schon hin.“

„Natürlich!“ sagte das Pferd. „Das liegt an dem Blut, das in deinen Adern fließt. Ich bin sicher, du bist von nordischem Geblüt. Aber nicht zu laut! Ich hoffe, sie schlafen bald ein.“