„Los, beeilt euch!“ befahl Aravis. „Der halbe Vormittag ist schon vorbei. Wir dürfen keine Sekunde mehr verlieren.“
„Also ich brauche erst mal ein Maulvoll Gras“, sagte Bree.
„Ich fürchte, dafür ist keine Zeit“, wandte Aravis ein.
„Warum denn diese Eile?“ fragte Bree. „Wir haben die Wüste durchquert, oder etwa nicht?“
„Aber wir sind noch nicht in Archenland“, sagte Aravis. „Wir müssen vor Rabadash dort ankommen.“
„Ach was, wir müssen meilenweit vor ihm sein“, sagte Bree. „Wir haben doch einen kürzeren Weg genommen. Hat dieser Rabe nicht gesagt, es sei eine Abkürzung, Shasta?“
„Er hat nicht gesagt, der Weg sei kürzer“, antwortete Shasta. „Er hat nur gesagt, er sei besser, weil er an einem Fluß entlangführt. Wenn die Oase genau nördlich von Tashbaan liegt, dann war unser Weg vermutlich länger, fürchte ich.“
„Also ohne Frühstück kann ich nicht weiter“, sagte Bree. „Nimm mein Zaumzeug ab, Shasta.“
„Ach b-bitte“, sagte Hwin schüchtern. „Ich habe genau wie Bree das Gefühl, nicht weiterzukönnen. Aber ich m-meine – sollten wir uns jetzt, wo wir frei sind, nicht noch mehr anstrengen? Es ist alles für Narnia.“
„Ich glaube, meine Dame“, sagte Bree vernichtend, „daß ich über Feldzüge und Gewaltmärsche und darüber, was ein Pferd aushält, ein klein wenig mehr weiß als du.“
Darauf wußte Hwin keine Antwort.
Also mußten sie warten, bis Bree einen Imbiß zu sich genommen und getrunken hatte. Auch Hwin und die Kinder aßen etwas und tranken sich satt. Es war schon fast elf Uhr als sie sich wieder auf den Weg machten.
Das Tal mit dem braunen, kühlen Fluß, dem Gras, dem Moos, den wilden Blumen und den Rhododendronbüschen war so wunderschön, daß man gar nicht schnell reiten mochte.
10. Der Einsiedler
Nachdem sie einige Stunden geritten waren, weitete sich das Tal und gab den Blick nach vorne frei. Der Fluß, dem sie gefolgt waren, mündete hier in einen breiteren, wilderen Strom, der nach Osten floß. Dahinter lag eine wunderschöne, sanft bis zu den nördlichen Bergen ansteigende Hügellandschaft. Zur Rechten erhoben sich schroffe Felsen, einige davon mit schneebedeckten Gipfeln, links sah man, so weit das Auge reichte, mit Nadelbäumen bewachsene Hänge, finstere Grate, enge Schluchten und blaue Hügelkämme. Den Berg Pire konnte Shasta nicht mehr sehen. Geradeaus sank die Bergkette zu einem bewaldeten Sattel ab. Das mußte der Paß sein, der von Archenland nach Narnia führte.
„Broo-hoo-hoo, der Norden, der grüne Norden!“ wieherte Bree. Und tatsächlich waren die niedrigen Hügel grüner als alles, was sich Aravis und Shasta je hätten vorstellen können. Und so faßten sie wieder Mut, während sie zu der Stelle hinunterritten, wo sich die beiden Flüsse trafen.
Der Fluß, der in Richtung Osten verlief und der am westlichen Ende der Bergkette von den höheren Bergen ins Tal strömte, war viel zu reißend und von so vielen Stromschnellen durchsetzt, daß nicht daran zu denken war, ihn zu durchschwimmen. Doch nachdem sie sich ein wenig umgesehen hatten, fanden sie eine Stelle, an der man ans andere Ufer waten konnte. Das Tosen und Brausen des Wassers die Kraft, mit der es die Fesseln der Pferde umspülte, die kühle Brise und die umherschwirrenden Libellen erfüllten Shasta mit einer eigenartigen Erregung.
„Freunde, wir sind in Archenland!“ verkündete Bree stolz als er, um sich spritzend, am nördlichen Ufer ankam und sich schüttelte. „Ich glaube, der Fluß, den wir eben durchwatet haben, heißt Schlängelpfeil.“
„Hoffentlich kommen wir noch rechtzeitig“, murmelte Hwin.
Dann begannen sie aufwärts zu steigen. Es ging langsam voran, und oft mußten sie im Zickzack laufen, denn die Hügel waren steil. Es war ein offenes, parkähnliches Gelände, das sie gerade durchquerten. Weder Straßen noch Häuser waren zu sehen. Überall sah man vereinzelte Baumgruppen, aber es war kein richtiger Wald – dafür standen die Bäume nicht dicht genug. Shasta, der fast sein ganzes Leben in einer Gegend verbracht hatte, wo es kaum Bäume gab, hatte noch nie so viele verschiedene Baumarten gesehen und kannte nicht einmal ihre Namen. Er wußte nicht, daß das Eichen, Buchen, Silberbirken, Ebereschen und Kastanienbäume waren. Kaninchen stoben nach allen Seiten davon, als die beiden Pferde mit den Kindern näher kamen. Kurz darauf sahen sie eine Herde Damhirsche, die zwischen die Bäume flüchtete.
„Wie wunderschön es hier ist!“ sagte Aravis.
Auf dem ersten Hügelkamm wandte sich Shasta um und schaute zurück. Tashbaan war nicht mehr zu sehen. Bis zum Horizont erstreckte sich die Wüste, lediglich unterbrochen von dem schmalen grünen Streifen des Tales, durch das sie gekommen waren.
„Na so was!“ sagte Shasta plötzlich. „Was ist denn das?“
„Was meinst du?“ fragte Bree und drehte sich ebenfalls um. Auch Hwin und Aravis wandten den Kopf.
„Dort!“ Shasta zeigte ihnen, was ihm aufgefallen war. „Sieht aus wie Rauch. Ob dort wohl ein Feuer brennt?“
„Es könnte auch ein Sandsturm sein“, meinte Bree.
„Dafür ist der Wind nicht stark genug“, wandte Aravis ein.
„Oh!“ rief Hwin. „Schaut! Da glitzert etwas. Seht nur! Es sind Helme – und Rüstungen. Sie bewegen sich: sie kommen in unsere Richtung.“
„Bei Tash!“ rief Aravis. „Es sind Truppen! Das ist Rabadash!“
„Natürlich“, sagte Hwin. „Das habe ich befürchtet. Rasch! Wir müssen vor ihnen in Anvard sein!“ Ohne ein weiteres Wort wirbelte sie herum und begann nordwärts zu galoppieren. Bree warf den Kopf zurück und raste hinterher.
„Los, Bree, los!“ schrie Aravis über die Schulter zurück.
Dieser Ritt war mörderisch für die beiden Pferde. Jedesmal, wenn sie auf dem Kamm eines Hügels angekommen waren, lag ein weiteres Tal und ein weiterer Hügelkamm vor ihnen. Zwar wußten sie, daß sie ungefähr in die richtige Richtung galoppierten, aber sie hatten keine Ahnung, wie weit es bis Anvard noch sein mochte. Als sie auf der Spitze des nächsten Hügels angekommen waren, schaute Shasta noch einmal zurück. Statt der Staubwolke weit draußen in der Wüste sah er jetzt eine schwarze, sich vorwärts bewegende, ameisenähnliche Masse am jenseitigen Ufer des Schlängelpfeils. Zweifellos suchten die Soldaten nach einer Furt.
„Sie sind am Fluß!“ rief er aufgeregt.
„Beeilt euch! Beeilt euch!“ rief Aravis. „Wenn wir Anvard nicht vor ihnen erreichen, hätten wir überhaupt nicht zu kommen brauchen! Renn, Bree, renn! Denk dran, daß du ein Streitroß bist!“
Shasta dachte: Das arme Vieh tut schon, was es kann! Aber das stimmte nicht ganz. Bree hatte Hwin inzwischen eingeholt, und sie rasten Seite an Seite über das Gras. Es hatte fast den Anschein, als könne Hwin dieses Tempo nicht mehr lange durchhalten.
Ein Laut, den sie hinter sich hörten, veränderte die Situation auf einen Schlag. Es war nicht der Lärm, den sie eigentlich erwartet hatten – nämlich das Donnern der Hufe, das Klirren der Rüstungen und dazwischen vielleicht kalormenische Schlachtrufe. Shasta erkannte ihn sofort. Es war das wilde Gebrüll, das er in jener Mondnacht gehört hatte, als Hwin und Aravis zu ihnen gestoßen waren. Bree erkannte es ebenfalls. Seine Augen leuchteten rot, und er legte die Ohren flach. Jetzt merkte Bree, daß er nicht so schnell galoppiert war, wie er eigentlich konnte – längst nicht so schnell. Shasta spürte sogleich den Unterschied. Jetzt rannte Bree wirklich, als wäre der Teufel hinter ihm her. Nach ein paar Sekunden hatte er Hwin schon weit hinter sich gelassen.
Das ist nicht fair! dachte Shasta. Ich habe gemeint, wenigstens hier hätten wir Ruhe vor den Löwen!
Er schaute über die Schulter zurück und sah eine riesige, gelbbraune Kreatur, die hinter ihnen hersetzte, geduckt wie eine Katze zum Sprung.
Shasta schaute wieder geradeaus. Doch er begriff kaum, was er da sah. Vor ihnen kreuzte eine etwa zehn Fuß hohe, glatte grüne Mauer den Weg. In der Mitte dieser Mauer war ein offenes Tor. Und in diesem Tor stand ein großer Mann, der ein wallendes Gewand in der Farbe von Herbstblättern trug, das ihm bis auf die bloßen Füße hinunterfiel. Er stützte sich auf einen Stab, und sein Bart reichte ihm fast bis zu den Knien.