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All das nahm Shasta mit einem Blick wahr. Dann schaute er wieder zurück. Der Löwe hatte Hwin inzwischen fast eingeholt. Er schnappte nach ihren Hinterbeinen, und in ihrem schaumbespritzten Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen lag keine Hoffnung mehr.

„Halt an!“ schrie Shasta in Brees Ohr. „Zurück. Wir müssen Hwin helfen!“

Bree sagte hinterher, er habe Shasta nicht gehört, oder zumindest habe er ihn nicht verstanden. Und da er gewöhnlich sehr wahrheitsliebend war, müssen wir ihm das wohl glauben.

Shasta nahm die Füße aus den Steigbügeln, ließ sich mit beiden Beinen auf Brees linker Seite hinuntergleiten, zögerte einen klitzekleinen, aber schrecklichen Augenblick lang und sprang dann ab. Es tat entsetzlich weh, und er bekam kaum noch Luft: aber ungeachtet des Schmerzes taumelte er zurück, um Aravis zu helfen.

Ein markerschütternder Schrei brach zwischen Hwins Lippen hervor. Aravis beugte sich tief über den Nacken der Stute, als wolle sie versuchen, das Schwert zu ziehen. Da erhob sich der Löwe auf die Hinterbeine und war nun plötzlich unvorstellbar groß. Er versetzte Aravis mit der rechten Vordertatze einen Hieb. Shasta sah, daß er seine schrecklichen Krallen ausgestreckt hatte. Aravis schrie auf und wankte. Der Löwe hatte sich in ihrer Schulter festgekrallt. Shasta verlor vor Entsetzen fast den Verstand, doch es gelang ihm, sich auf das Scheusal zu stürzen. Aber er hatte keine Waffe, nicht einmal einen Stock oder einen Stein, deshalb schrie er den Löwen an, wie man sonst vielleicht einen Hund anschreit: „Zurück da! Verschwinde!“ Für den Bruchteil einer Sekunde starrte er direkt in den weitgeöffneten Rachen des wütenden Tieres. Dann ließ der Löwe zu Shastas Erstaunen plötzlich von Aravis ab, überschlug sich, kam wieder auf die Beine und rannte davon.

Shasta glaubte keine Sekunde lang, der Löwe könne endgültig verschwunden sein. Er drehte sich um und raste auf die grüne Mauer zu. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, daß er dort ein Tor gesehen hatte. Hwin stolperte, gerade dem Zusammenbruch nahe, hinein. Aravis hielt sich noch im Sattel aber ihr Rücken war voller Blut.

„Komm herein, meine Tochter, komm herein“, sagte der bärtige Mann mit dem wallenden Gewand. „Komm herein mein Sohn“, fügte er hinzu, als Shasta angekeucht kam. Shasta hörte, wie sich hinter ihm das Tor schloß. Der bärtige Fremde half Aravis vom Pferd. Shasta sah sich um. Sie befanden sich auf einem großen, kreisrunden Gelände, eingesäumt von einer hohen Wand aus grünem Gras. Ein Teich, so voll, daß das Wasser fast auf gleicher Höhe mit der Erde stand, lag völlig unbeweglich und von Zweigen überschattet vor ihm. An einem Ende des Teiches wuchs der größte und schönste Baum, den Shasta je gesehen hatte. Hinter dem Teich stand ein kleines, niedriges Steinhaus mit einem weit heruntergezogenen, uralten Strohdach. Ein Meckern war zu hören. Auf der anderen Seite des Geländes weideten ein paar Ziegen. Überall wuchs weiches Gras.

„Seid Ihr ...“, keuchte Shasta. „Seid Ihr König Lune von Archenland?“

Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte er ruhig. „Ich bin der Einsiedler der Südmark. Und nun, mein Sohn, vergeude nicht die Zeit mit Fragen, sondern tu, was ich dir sage. Die junge Dame ist verwundet. Eure Pferde sind erschöpft. Rabadash hat eben eine Furt über den Schlängelpfeil gefunden. Wenn du jetzt losrennst, ohne auch nur einen Augenblick zu rasten, dann kommst du noch rechtzeitig, um König Lune zu warnen.“

Shasta wurde ganz weich in den Knien, als er diese Worte hörte. Er hatte absolut keine Kraft mehr. Trotzdem fragte er: „Wo ist der König?“

Der Einsiedler wandte sich um und deutete mit dem Stab. „Schau!“ sagte er. „Dort ist wieder ein Tor. Genau gegenüber von dem, durch das du hereingekommen bist. Öffne es und geh geradeaus: immer geradeaus, ob eben oder steil, weich oder hart, trocken oder naß. Ich weiß durch meine Kunst daß du dort König Lune finden wirst. Aber renn, renn: bleib nicht stehn!“

Shasta nickte, rannte zum nördlichen Tor und verschwand. Nun nahm der Einsiedler Aravis, die er mit dem linken Arm gestützt hatte, und führte sie behutsam ins Haus. Lange Zeit später kam er wieder heraus.

„So, meine Neffen“, sagte er zu den Pferden. „Jetzt seid ihr dran.“

Ohne auf eine Antwort zu warten – die Pferde waren sowieso zu müde zum Reden –, nahm er ihnen Zaumzeug und Sättel ab. Dann rieb er die beiden so gut ab, daß es selbst der erste Pferdeknecht an einem königlichen Stall nicht besser gemacht hätte.

„So, meine Neffen“, sagte er. „Streicht alles aus eurem Gedächtnis, und macht es euch bequem. Hier ist Wasser, und da ist Gras. Ich werde euch einen heißen Brei bringen, sobald ich meine Ziegen gemolken habe.“

„Herr“, sagte Hwin, die endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Wird die Tarkheena am Leben bleiben? Hat der Löwe sie tödlich verletzt?“

„Ich, der ich durch meine Kunst viele Dinge weiß, die sich in der Gegenwart ereignen“, entgegnete der Einsiedler lächelnd, „habe nur geringe Kenntnis von den Dingen, die in der Zukunft liegen. Deshalb weiß ich nicht, ob auf der ganzen Welt heute abend bei Sonnenuntergang noch ein einziger Mann, eine einzige Frau oder einziges Tier am Leben ist. Aber sei guter Hoffnung. Die junge Dame wird vermutlich genauso alt werden wie jeder andere ihrer Altersgenossen.“

Als Aravis zu sich kam, entdeckte sie, daß sie in einem kühlen, kahlen Raum mit rohen Steinwänden auf einem weichen, niedrigen Bett lag. Sie verstand nicht, warum sie auf dem Bauch lag; aber als sie sich umdrehen wollte und den stechenden Schmerz am Rücken verspürte, fiel ihr alles wieder ein. Sie hatte keine Ahnung, was dieses wunderbar federnde Zeug sein mochte, aus dem ihr Lager gemacht war. Es bestand aus Heidekraut, dem allerbesten Bettzeug, doch davon hatte sie noch nie gehört.

Die Tür ging auf, und der Einsiedler kam herein. Er trug eine große hölzerne Schale in der Hand. Nachdem er diese vorsichtig abgesetzt hatte, trat er zum Bett und fragte: „Wie geht es dir, meine Tochter?“

„Mein Rücken tut sehr weh, Vater“, sagte Aravis. „Aber sonst ist alles in Ordnung.“

Er kniete sich neben sie, legte seine Hand auf ihre Stirn und fühlte ihren Puls. „Du hast kein Fieber“, sagte er. „Es geht dir gut. Es gibt wirklich keinen Grund, warum du nicht morgen wieder aufstehen solltest. Doch jetzt trink.“

Er holte die hölzerne Schale und führte sie an ihre Lippen. Aravis verzog das Gesicht, als sie den ersten Schluck genommen hatte, denn Ziegenmilch ist ein ziemlicher Schock, wenn man nicht an sie gewöhnt ist. Aber Aravis war sehr durstig, und so schaffte sie es, die Schale leerzutrinken. Danach ging es ihr schon besser.

„So, meine Tochter, du kannst jetzt schlafen, wenn du magst“, sagte der Einsiedler. „Deine Wunden sind ausgewaschen und verbunden, und obwohl sie schmerzen, sind sie doch nicht schlimmer als die Kratzer einer Katze. Das muß ein ganz eigenartiger Löwe gewesen sein; denn anstatt dich aus dem Sattel zu zerren und die Zähne in dich zu schlagen, hat er dir nur die Krallen über den Rücken gezogen. Zehn Striemen – schmerzhaft, aber weder tief noch gefährlich.“

„O je!“ rief Aravis. „Da habe ich aber Glück gehabt!“

„Tochter“, sagte der Einsiedler. „Ich lebe jetzt seit einhundertundneun Jahren in dieser Welt, und so etwas wie Glück ist mir noch nie über den Weg gelaufen. An dieser Sache ist einiges, was ich nicht verstehe, aber wenn es jemals sein soll, daß wir es verstehen, dann werden wir es auch verstehen – da kannst du sicher sein.“

„Und was ist mit Rabadash und seinen zweihundert berittenen Männern?“ erkundigte sich Aravis.

„Sie werden vermutlich nicht hier vorbeikommen“, entgegnete der Einsiedler. „Sie müssen inzwischen ein gutes Stück östlich eine Furt gefunden haben. Von dort aus werden sie geradewegs nach Anvard reiten.“