„Armer Shasta!“ rief Aravis. „Muß er weit gehen? Wird er es schaffen, vor ihnen anzukommen?“
„Gut möglich“, sagte der alte Mann.
Aravis legte sich wieder zurück – auf die Seite diesmal – und sagte: „Habe ich lange geschlafen? Es scheint dunkel zu werden.“
Der Einsiedler schaute aus dem einzigen, nach Norden gewandten Fenster. „Dies ist nicht die Dunkelheit der Nacht“, sagte er nach einem Weilchen. „Die Wolken rollen vom Sturmkopf herunter. Das schlechte Wetter in dieser Gegend kommt immer von dort. Heute nacht wird dichter Nebel aufkommen.“
Abgesehen von ihrem schmerzenden Rücken fühlte sich Aravis am nächsten Tag so wohl, daß ihr der Einsiedler nach dem Frühstück, das aus Hafergrütze mit Sahne bestand, die Erlaubnis zum Aufstehen gab. Natürlich ging sie gleich nach draußen, um mit den Pferden zu reden. Das Wetter hatte umgeschlagen, und das ganze Gelände war mit Sonnenlicht erfüllt, wie eine riesige grüne Tasse. Es war ein sehr friedlicher, einsamer und stiller Ort.
Hwin kam sofort angetrottet und gab Aravis einen Pferdekuß.
„Aber wo ist Bree?“ fragte Aravis, nachdem sie sich nach dem gegenseitigen Wohlbefinden erkundigt hatten.
„Da drüben“, antwortete Hwin und deutete mit der Nase zur anderen Seite des kreisrunden Geländes. „Ich wollte, du würdest mit ihm reden. Irgend etwas stimmt nicht mit ihm Ich kann kein Wort aus ihm herauskriegen.“
Aravis schlenderte hinüber. Bree lag da mit dem Gesicht zur Mauer. Obwohl er sie gehört haben mußte, drehte er nicht einmal den Kopf zu ihr um.
„Guten Morgen, Bree“, sagte Aravis. „Wie geht es dir heute früh?“ Bree brummte etwas Unverständliches.
„Der Einsiedler meint, Shasta habe König Lune vermutlich noch rechtzeitig erreicht“, fuhr Aravis fort. „Es sieht also so aus, als hätten wir das Ganze hinter uns. Jetzt sind wir bald in Narnia, Bree!“
„Ich werde Narnia nie sehen“, sagte Bree leise.
„Geht es dir nicht gut, Bree, mein Lieber?“ erkundigte sich Aravis.
Jetzt drehte sich Bree endlich um. Er machte ein so kummervolles Gesicht, wie es das nur ein Pferd fertigbringt. „Ich werde nach Kalormen zurückkehren“, sagte er.
„Was?“ sagte Aravis. „Zurück in die Sklaverei?“
„Ja“, antwortete Bree. „Ich tauge nur für die Sklaverei. Wie kann ich den freien, narnianischen Pferden jemals ins Gesicht sehen? Ich, der ich eine Stute und ein Mädchen den Löwen zum Fraß überließ, während ich im Galopp davonjagte, um meine eigene Haut zu retten!“
„Wir sind beide um unser Leben gerannt“, sagte Hwin.
„Shasta nicht!“ schnaubte Bree. „Er ist zurückgelaufen. Und ich, der ich mich als Schlachtroß rühmte und mit meinen hundert Schlachten prahlte, ich lasse mich von einem kleinen Menschenjungen beschämen – einem Kind, einem Fohlen, das noch nie ein Schwert in der Hand hielt, nie eine gute Erziehung genoß und dem nie jemand mit gutem Beispiel voranging!“
„Ich weiß“, sagte Aravis. „Mir geht es wie dir. Shasta war wunderbar. Ich habe ihn verächtlich behandelt und auf ihn herabgeschaut, seit wir euch trafen, und jetzt stellt sich heraus, daß er der Mutigste von uns allen ist. Aber ich finde, es ist besser, du bleibst hier und entschuldigst dich, statt nach Kalormen zurückzukehren.“
„Für dich mag das ja angehen“, sagte Bree. „Du hast dich nicht unehrenhaft verhalten. Aber ich habe meine Ehre verloren.“
„Mein liebes Pferd“, sagte der Einsiedler, der sich auf dem taubenetzten Gras lautlos genähert hatte. „Mein gutes Pferd, du hast lediglich deinen Hochmut verloren. Nein, nein, mein Neffe. Es besteht kein Grund, die Ohren zurückzulegen und die Mähne gegen mich zu schütteln. Wenn du dich wirklich so gedemütigt fühlst, wie es sich vor einer Minute noch anhörte, dann mußt du lernen, deine Ohren der Vernunft zu öffnen. Du bist nicht das großartige Pferd, für das du dich hieltest, als du noch mit den armen, stummen Pferden zusammenlebtest. Natürlich warst du mutiger und klüger als sie. Das ist ganz natürlich. Aber deshalb bist du in Narnia noch lange nichts Besonderes. Solange du aber weißt, daß du nichts Besonderes bist, wirst du alles in allem doch ein recht annehmbares Pferd sein. Und wenn du jetzt mit deiner vierbeinigen Gefährtin nach hinten zur Küchentür kommst, dann gebe ich euch die andere Hälfte vom Brei.“
11. Der unwillkommene Reisegefährte
Als Shasta durch das Tor trat, lag vor ihm ein mit Gras und vereinzelten Heidekrautbüscheln bewachsener Hang, der sich bis zu einer Baumgruppe hinaufzog. Jetzt mußte er nicht mehr überlegen, nicht mehr planen: er mußte nur noch rennen. Aber das war schon schwierig genug. Seine Beine zitterten, er bekam Seitenstechen, und der Schweiß, der ihm von der Stirn lief, brannte ihm in den Augen, so daß er kaum noch etwas sehen konnte. Seine Schritte wurden unsicher, und einige Male knickte er fast um, als er auf einen Stein trat.
Die Bäume standen inzwischen dichter als zuvor, und auf den Lichtungen wuchs Farnkraut. Die Sonne war verschwunden, doch kühler war es deshalb nicht. Der Tag war zu einem jener grauen, heißen Tage geworden, an denen scheinbar zweimal so viele Fliegen unterwegs sind wie gewöhnlich. Sie saßen überall auf Shastas Gesicht; aber er versuchte nicht, sie zu verjagen, zu sehr war er mit anderen Dingen beschäftigt.
Plötzlich hörte er ein Horn. Aber es dröhnte nicht so laut wie die Hörner in Tashbaan. Statt dessen klang es fröhlich: „Ti-ro-too-ho!“ Einen Augenblick später trat Shasta auf eine große Lichtung, auf der eine Menge Leute versammelt waren. Zumindest kam es Shasta so vor, als wäre es eine ganze Menge. In Wirklichkeit waren es nur fünfzehn oder zwanzig – alles Edelmänner in grüner Jagdkleidung und mit Pferden. Einige saßen im Sattel, andere machten sich zum Aufsitzen bereit. In der Mitte der Gruppe wurden einem Reiter die Steigbügel seines Pferdes gehalten, damit er aufsitzen konnte. Der Mann, für den die Steigbügel gehalten wurden, war der freundlichste und dickste König, den ihr euch nur vorstellen könnt. Seine Augen funkelten verschmitzt.
Als Shasta auftauchte, gab der König sofort den Versuch auf, sein Pferd zu besteigen. Er breitete die Arme aus, strahlte Shasta an und rief mit einer kräftigen, tiefen Stimme, die von weit unten aus seiner Brust zu kommen schien: „Corin! Mein Sohn! Zu Fuß und in Lumpen! Was ...“
„Nein!“ keuchte Shasta und schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht Prinz Corin. Ich – ich – weiß, daß ich ihm ähnlich sehe – ich traf Seine Hoheit in Tashbaan ... er schickt Grüße.“
Der König starrte Shasta mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an.
„Seid Ihr König Lune?“ stieß Shasta hervor. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Mein König – flieht nach Anvard – schließt die Tore – der Feind nähert sich – Rabadash – mit zweihundert Pferden und Männern.“
„Weißt du das gewiß, Junge?“ fragte einer der anderen Edelmänner.
„Ich habe es mit eigenen Augen gesehen“, erklärte Shasta. „Wir sind seit Tashbaan mit ihm um die Wette gelaufen.“
„Zu Fuß?“ fragte der Edelmann und hob die Augenbrauen.
„Die Pferde sind beim Einsiedler“, erklärte Shasta.
„Befrage ihn nicht weiter, Darrin“, gebot König Lune. „Ich sehe in seinem Gesicht, daß er die Wahrheit spricht. Wir müssen uns rasch auf den Weg machen, meine Herren. Bringt ein Pferd für den Jungen. Kannst du schnell reiten, mein Freund?“
Als Antwort schwang Shasta seinen Fuß in den Steigbügel des Pferdes, das man ihm gebracht hatte, und einen Augenblick später saß er im Sattel. Er freute sich, als er hörte, wie Lord Darrin zum König sagte: „Der Junge sitzt im Sattel wie ein wahrer Reiter. Ich möchte wetten, in seinen Adern fließt edles Blut.“
„Ja – sein Blut – das ist es, wonach ich mich frage“, sagte der König. Er starrte Shasta noch einmal durchdringend an, und in seinen ruhigen grauen Augen lag ein eigenartiger, fast möchte man sagen begehrlicher Ausdruck.