„Ich schleiche mich hinein und sehe nach“, schlug Shasta vor.
„Gute Idee“, sagte das Pferd. „Aber paß auf, daß du nicht erwischt wirst.“
Es war inzwischen fast dunkel geworden. Abgesehen von dem Rauschen der Wellen am Strand war alles still. Doch die Wellen hörte Shasta kaum noch, denn diesen Klang hatte er Tag und Nacht in den Ohren gehabt, solange er zurückdenken konnte. Die Hütte war jetzt stockdunkel. Vor der Hütte war auch nicht der kleinste Laut zu hören. Aber als Shasta um die Hütte herumging zum anderen Fenster, da hörte er das vertraute quieksige Schnarchen des alten Fischers. Der Gedanke, daß er dieses Schnarchen vielleicht nie mehr hören würde, kam ihm komisch vor. Shasta verhielt sich mucksmäuschen still. Er war ein klein wenig traurig, aber seine Freude überwog die Trauer. Er hielt den Atem an, schlich auf dem Gras hinüber zum Stall des Esels, tastete sich zu der Stelle vor, wo der Schlüssel versteckt lag, öffnete die Tür und fand schließlich den Sattel und das Zaumzeug des Pferdes, die dort über Nacht eingeschlossen waren. Er beugte sich vor und gab dem Esel einen Kuß auf die Nase. „Es tut mir leid, daß wir dich nicht mitnehmen können“, sagte er.
„Da bist du ja endlich wieder“, meinte das Pferd, als Shasta zurückkehrte. „Ich habe mich schon langsam gefragt, was dir wohl zugestoßen sein könnte.“
„Ich habe deine Sachen aus dem Stall geholt“, erklärte Shasta. „Kannst du mir jetzt sagen, wie man sie anlegt?“
Sehr vorsichtig, damit es nicht klirrte, machte sich Shasta an die Arbeit, während das Pferd solche Dinge sagte wie: „Schnall den Riemen etwas fester“ oder „Weiter unten findest du eine Schnalle“ oder „Diese Steigbügel mußt du noch ein gutes Stück kürzer binden“. Als alles fertig war, sagte es: „So. Aber die Zügel sind nur zum Schein da, benutzen darfst du sie nicht. Binde sie am Sattelbaum fest: ganz locker, damit ich mit meinem Kopf tun kann, was ich will. Und denk dran – du darfst sie nicht berühren!“
„Wofür sind sie dann gut?“ wollte Shasta wissen.
„Gewöhnlich werden die Zügel benutzt, um mich damit zu lenken“, entgegnete das Pferd. „Aber da ich vorhabe, auf dieser Reise das Lenken selbst zu besorgen, behältst du deine Hände besser bei dir. Und dann noch etwas. Es geht nicht an, daß du dich an meiner Mähne festklammerst.“
„Aber woran soll ich mich denn festhalten, wenn ich weder die Zügel noch deine Mähne anfassen darf?“ fragte Shasta.
„Du hältst dich mit den Knien fest“, erklärte das Pferd. „Das ist das Geheimnis eines guten Reiters. Du kannst dich mit deinen Knien an meinen Körper klammern, sosehr du willst. Setz dich aufrecht, so kerzengerade wie ein Stock, die Ellbogen eng an den Körper gepreßt. Übrigens – was hast du mit den Sporen gemacht?“
„Ich habe sie an meinen Fersen befestigt“, sagte Shasta.
„Dann kannst du sie gleich wieder abnehmen und in die Satteltaschen stecken. Vielleicht können wir sie in Tashbaan verkaufen. Fertig? Ich hoffe doch, du kommst hinauf, wie?“
„Oh! Du bist so schrecklich hoch!“ keuchte Shasta nach seinem ersten erfolglosen Versuch.
„Ich bin ein Pferd, das ist alles“, war die Antwort. „Man könnte meinen, ich sei ein Heuhaufen, so, wie du dich beim Hochklettern anstellst! Na also, das war schon besser. Jetzt setz dich aufrecht und denk dran, was ich dir über deine Knie gesagt habe. Es ist schon komisch, wenn man sich überlegt, daß auf mir, der ich Kavallerieattacken angeführt und Rennen gewonnen habe, ein solcher Kartoffelsack sitzt wie du. Aber egal – los geht’s!“ Das Pferd kicherte, aber nicht unfreundlich.
Dann begann es vorsichtig den nächtlichen Ritt. Zuerst ging es von der Hütte des Fischers aus nach Süden zu dem kleinen Fluß, der dort ins Meer mündete. Das Pferd achtete sorgsam darauf, im Schlamm ein paar deutliche Hufabdrücke zu hinterlassen, die nach Süden zeigten. Aber sobald sie in der Mitte der Furt angekommen waren, wandte es sich flußaufwärts und platschte durch das Wasser ans nördliche Ufer. Dort suchte es sich eine schöne kiesige Stelle aus, auf der sich die Hufe nicht abdrückten, und kletterte heraus. Es trottete in Richtung Norden, bis die Hütte, der einzelne Baum, der Eselsstall und die kleine Bucht – ja alles, was Shasta jemals gekannt hatte – von der grauen Dunkelheit dieser Sommernacht verschluckt worden waren. Es stapfte aufwärts, und bald standen sie auf der Kuppe des Hügels, der für Shasta immer die Grenze seiner Welt gewesen war. Trotz der Dunkelheit konnte er erkennen, daß offenes, grasbewachsenes Land vor ihnen lag – endlos, wild, einsam und frei.
„Oho!“ bemerkte das Pferd. „Eine schöne Gegend für einen Galopp, was?“
„Oh, bloß nicht!“ protestierte Shasta. „Noch nicht! Ich weiß nicht, wie man ... Bitte, Pferd. Ich weiß nicht, wie du heißt.“
„Breehy-hinny-brinny-hoohy-hah“, sagte das Pferd.
„Das werd’ ich niemals lernen“, seufzte Shasta. „Kann ich dich Bree nennen?“
„Na ja, wenn das alles ist, was du fertigbringst. Mir soll’s recht sein“, sagte das Pferd. „Und wie soll ich dich nennen?“
„Ich heiße Shasta.“
„Hm“, entgegnete Bree. „Also das ist ein Name, der wirklich schwer auszusprechen ist. Aber jetzt zum Galopp. Er ist viel einfacher als der Trott, wenn du ihn erst einmal beherrschst, denn dabei brauchst du nicht auf und ab zu federn. Klammre dich mit den Knien fest, und schau immer geradeaus zwischen meinen Ohren hindurch. Sieh nicht nach unten. Wenn du das Gefühl hast, du müßtest gleich fallen, dann preßt du die Knie noch fester zusammen und setzt dich aufrechter. Bist du bereit? So – auf geht’s nach Narnia und in den Norden!“
2. Ein Abenteuer am Wegesrand
Der Mittag nahte schon, als Shasta am nächsten Tag aufwachte, weil etwas Warmes und Weiches über sein Gesicht strich. Er öffnete die Augen und starrte geradewegs in das lange Gesicht eines Pferdes, dessen Nase und Lippen fast die seinen berührten. Die aufregenden Ereignisse der vergangenen Nacht fielen ihm ein, und er setzte sich auf. Dabei entfuhr ihm ein Stöhnen.
„Oje, Bree“, jammerte er. „Mir tut alles weh. Jeder einzelne Knochen. Ich kann mich kaum rühren.“
„Guten Morgen, Kleiner“, sagte Bree. „Ich habe schon befürchtet, daß deine Knochen ein bißchen steif sein werden. Aber vom Fallen kann das nicht kommen. Du bist nur ein dutzendmal oder so gestürzt, und jedesmal auf schönes, weiches, federndes Gras. Da müßte das Fallen ja eigentlich fast Spaß machen. Und das eine Mal, wo es hätte unangenehm werden können, wurde dein Sturz durch den Ginsterbusch gebremst. Nein – es ist das Reiten selbst, was am Anfang so anstrengend ist. Was ist mit dem Frühstück? Ich habe schon gegessen.“
„Ach zum Teufel mit dem Frühstück. Zum Teufel mit allem“, entgegnete Shasta. „Ich sag’ dir doch, ich kann mich nicht rühren!“ Aber das Pferd stupste ihn so lange mit der Nase und mit einem Huf an, bis Shasta schließlich nichts anderes übrigblieb, als aufzustehen. Jetzt schaute er sich um.
Hinter ihnen lag ein Wäldchen. Vor ihnen senkte sich das mit weißen Blumen gesprenkelte Gras zur Spitze eines Kliffs hinab. So weit unter ihnen, daß man das Geräusch der sich brechenden Wellen kaum mehr hörte, lag das Meer. Shasta hatte noch nie von so hoch oben auf das Meer hinuntergeschaut und hätte sich nie träumen lassen, es könne soviel verschiedene Farben haben. Nach beiden Seiten erstreckte sich meilenweit die Küste mit unzähligen Landzungen, an deren Spitze man den weißen Schaum sah, der in der Ferne lautlos die Felsen umspülte. Hoch in der Luft flogen Möwen, und über der Erde flimmerte die Hitze. Es war ein strahlend heller Sonnentag. Aber was Shasta vor allem auffiel, war die Luft. Irgend etwas schien zu fehlen, doch Shasta merkte nicht gleich, was es war. Schließlich wurde ihm klar, daß es der Geruch nach Fisch sein mußte. Diesen Geruch hatte er sein ganzes Leben lang in der Nase gehabt, sowohl in der Hütte als auch draußen bei den Netzen. Die Luft hier roch dagegen ganz himmlisch, und sein früheres Leben schien so weit, daß er einen Augenblick lang seine blauen Flecken und seine schmerzenden Muskeln vergaß.