„Das regeln wir morgen, meine Liebe“, sagte Bree. „Jetzt wird es Zeit, ein Schläfchen zu halten.“
Aber es war gar nicht so einfach, sich in diesem Punkt zu einigen. Aravis schlug vor, bei Nacht unterhalb von Tashbaan den Fluß zu durchqueren und die Stadt überhaupt nicht zu betreten. Doch Bree hatte zwei Einwände. Erstens einmal sei die Flußmündung sehr breit, um sie schwimmend zu durchqueren, noch dazu mit einem Reiter auf dem Rücken. Zum anderen seien dort viele Schiffe unterwegs, so daß man kaum damit rechnen konnte, unbemerkt vorbeizukommen.
Shasta schlug vor, man solle flußaufwärts und an Tashbaan vorbeireiten und den Fluß erst dort überqueren, wo er schmäler wurde. Aber Bree erklärte, daß dort an beiden Ufern meilenweit Villen lägen, wo Tarkaans und Tarkheenas wohnten. Dort sei die Wahrscheinlichkeit am größten, jemanden zu treffen, der Aravis oder sogar ihn selbst erkannte.
„Wir müssen uns verkleiden“, schlug Shasta vor.
Hwin meinte, vielleicht würde es am einfachsten sein, geradewegs durch die Stadt zu reiten, weil man in einer Menschenmenge weniger auffällt. Aber dem Vorschlag Shastas, sich zu verkleiden, stimmte sie zu. Sie sagte: „Die beiden Kinder müssen sich in Lumpen kleiden, damit man sie für Bauernkinder oder für Sklaven hält. Die Rüstung von Aravis, unsere Sättel und die anderen Sachen müssen zu Bündeln verschnürt und auf unseren Rücken gepackt werden, und die Kinder müssen so tun, als führten sie uns, dann glauben die Leute, wir seien Packpferde.“
„Meine liebe Hwin!“ sagte Aravis scharf. „Als ob irgend jemand Bree für etwas anderes halten könnte als für ein Streitroß – da hilft kein Täuschungsmanöver.“
„Das möchte ich doch meinen“, sagte Bree. Er schnaubte und legte ein ganz klein wenig die Ohren zurück.
„Ich weiß, daß es kein sehr guter Plan ist“, sagte Hwin. „Aber ich glaube, das ist unsere einzige Möglichkeit. Wenn wir uns mit Schlamm beschmieren und müde die Köpfe hängen lassen und beim Gehen kaum die Hufe heben – dann kommen wir vielleicht durch. Und unser Schweif muß gekürzt werden: nicht ordentlich, versteht ihr, sondern ganz ungleichmäßig.“
„Meine liebe Dame“, sagte Bree. „Hast du daran gedacht, wie unangenehm es wäre, in diesem Zustand in Narnia anzukommen?“
„Nun ja“, sagte Hwin gleichmütig. „Das allerwichtigste ist, überhaupt dort anzukommen.“
Obwohl keiner so recht begeistert war, übernahm man schließlich doch Hwins Plan. Er brachte viele Probleme mit sich, und eine der Voraussetzungen dafür war, gewisse Dinge zu „stehlen“, wie Shasta es nannte, oder „einen Beutezug zu machen“, wie Bree sich ausdrückte. Ein Bauernhaus büßte an diesem Abend ein paar Säcke, ein anderes eine Rolle Seil ein; aber ein paar armselige Jungenkleider mußten am nächsten Tag ganz normal im Dorf gekauft und bezahlt werden. Shasta strahlte, als er damit zurückkehrte. Der Abend brach gerade herein. Die anderen warteten unter den Bäumen am Fuß einer langgezogenen, bewaldeten Hügelkette auf ihn, die hier ihren Weg kreuzte. Alle waren aufgeregt, weil dies die letzte Anhöhe war; sobald sie oben angekommen waren, mußte Tashbaan unter ihnen liegen. „Ich wollte, es läge schon hinter uns“, murmelte Shasta, zu Hwin gewandt. „Oh, ich auch, ich auch“, seufzte Hwin inbrünstig.
In dieser Nacht kletterten sie auf einem Holzfällerpfad mühsam durch den Wald nach oben. Als sie auf der Kuppe des Hügels aus dem Wald heraustraten, sahen sie unter sich im Tal Tausende von Lichtern schimmern. Shasta hatte keinerlei Vorstellung davon gehabt, wie eine große Stadt wohl aussehen mochte, und was er da sah, ängstigte ihn. Dann aßen sie, und die Kinder schliefen ein wenig. Aber schon am frühen Morgen weckten die Pferde die beiden wieder auf.
Die Sterne standen noch am Himmel, das Gras war naß und kalt, doch weit zu ihrer Rechten, über dem Meer, dämmerte es schon ein wenig. Aravis schlüpfte in ihre neuen, schäbigen Kleider. Sie war kaum wiederzuerkennen. Ihre eigenen Kleider schnürte sie zu einem Bündel zusammen. Das Bündel, ihre Rüstung, ihren Schild, den Krummsäbel, die beiden Sättel und das edle Zaumzeug der Pferde steckten sie in die Säcke. Bree und Hwin hatten schon dafür gesorgt, daß sie so schmutzig und zerzaust wie möglich aussahen, und so mußten die beiden Kinder nur noch den Schweif der Pferde stutzen. Zu diesem Zweck mußte einer der Säcke wieder ausgepackt und der Krummsäbel hervorgeholt werden.
„Meine Güte!“ sagte Bree. „Wenn ich nicht ein sprechendes narnianisches Pferd wäre, würde ich euch jetzt einen saftigen Tritt versetzen! Ich dachte, ihr wolltet die Haare abschneiden – nicht ausreißen! So fühlt es sich nämlich an.“
Endlich war es soweit. Die großen Säcke wurden auf die Pferde geschnallt, die Kinder nahmen die Stricke auf, welche die Pferde jetzt anstelle des Zaumzeugs und der Zügel trugen, und der Troß setzte sich in Richtung Tashbaan in Bewegung.
„Vergeßt nicht – ihr beiden dürft nicht reden!“ sagte Shasta zu Bree und Hwin. „Was auch immer geschehen mag!“
4. Shasta trifft die Narnianen
uerst konnte Shasta in dem Tal, das unter ihnen lag, außer einem Nebelmeer, durch das ein paar Kuppeln und Zinnen ragten, nichts erkennen. Doch als es heller wurde und der Nebel sich verzog, sah er immer mehr und mehr. Ein breiter Fluß spaltete sich in zwei Flußarme auf. Dazwischen, auf einer Insel, lag die Stadt Tashbaan. Rund um die Insel zog sich, vom Wasser umspült, eine hohe Mauer mit so vielen Wehrtürmen, daß Shasta es bald aufgab, sie zu zählen. Innerhalb der Mauer erhob sich die Insel zu einem Hügel, und bis hinauf zum Palast des Tisroc und dem großen Tempel Tashs auf der Hügelspitze standen dicht an dicht Häuser – da lag eine Terrasse über der anderen, eine Straße über der anderen, gewundene Gäßchen oder riesige, von Orangen- und Zitronenbäumen gesäumte Treppen, Dachgärten, Balkone, tiefe Bogengänge, Kolonnaden, Spitztürme, Zinnen und Minarette. Und als schließlich die Sonne aus dem Meer aufstieg und die große, silberbeschlagene Kuppel des Tempels im Sonnenlicht funkelte, war Shasta fast geblendet.
„Nun mach schon, Shasta!“ mahnte Bree von Zeit zu Zeit.
An den Flußufern zu beiden Seiten des Tales lagen so viele Gärten, daß sie zuerst wie ein Wald aussahen, bis man dann näher kam und die weißen Wände der unzähligen Häuser entdeckte, die zwischen den Bäumen hervorlugten. Shasta schnupperte den köstlichen Duft der Blumen und Früchte. „Oh!“ rief er begeistert. „Das ist ja herrlich hier!“
„Das kann man wohl sagen“, bestätigte Bree. „Aber ich wollte, wir wären schon auf der anderen Seite der Stadt. Auf nach Narnia und in den Norden!“
In diesem Augenblick erhob sich ein leiser, bebender Ton, der nach und nach anschwoll, bis das ganze Tal zu erzittern schien. „Das sind die Hörner, die das Öffnen der Stadttore ankündigen“, erklärte Bree. „Wir sind gleich da. So, Aravis, laß die Schultern ein wenig hängen, und bemühe dich, ein bißchen weniger nach einer Prinzessin auszusehen.“
„Na gut“, sagte Aravis. „Aber wie wäre es, wenn auch du den Kopf ein wenig senken und versuchen würdest, ein bißchen weniger nach einem Streitroß auszusehen?“
„Pst!“ machte Bree. „Wir sind da.“
Sie waren am Flußufer angekommen, und die Straße führte auf eine Brücke mit unzähligen Rundbögen. Das Wasser tanzte silbern in der frühmorgendlichen Sonne; zu ihrer Rechten, zur Flußmündung hin, erhaschten sie einen Blick auf die Masten eines Schiffes. Auf der Brücke wimmelte es von Leuten, meist Bauern, die beladene Esel und Maulesel antrieben oder Körbe auf dem Kopf trugen. Die Kinder und die Pferde gesellten sich dazu.
Vor ihnen, am anderen Ende der Brücke, ragte die Stadtmauer auf. Die bronzenen Torflügel des Stadttors waren offen. Zu beiden Seiten standen sechs Soldaten, die ihre Speere vor sich aufgepflanzt hatten. Aravis konnte nicht anders, sie dachte: Wenn die wüßten, wessen Tochter ich bin! Doch die anderen dachten nur daran, wie es wohl zu schaffen war, die Stadt zu durchqueren, und hofften, die Soldaten mögen keine Fragen stellen. Glücklicherweise kam es nicht dazu. Aber einer von ihnen nahm eine Karotte aus dem Korb eines Bauern, warf sie Shasta lachend zu und rief: „He! Pferdejunge! Wenn dein Herr merkt, daß du sein Sattelpferd als Packgaul benutzt, dann wirst du etwas erleben!“