Das hörte sich gut an. General Drakon. Dazu eine Uniform für hochrangige militärische Führer anstelle von Anzügen. Mehr als nur ein Executive-Spezialisierungs- und Zuordnungscode, der etwas darüber aussagte, wer er war. Nicht nur was er war, sondern wer er war. »Wir müssen mit der Vergangenheit brechen, und das erledigen wir womöglich am besten, indem wir in eine noch fernere Vergangenheit zurückblicken.« Einfach entscheiden und die Entscheidung umsetzen. Nicht erst durch Hunderte bürokratische Ebenen kämpfen und dann Jahre darauf warten, dass ein Bescheid ergeht, der das Ansinnen letztlich abschlägt und dabei noch die Frage aufwirft, was einem denn bitteschön eingefallen sei, sich eigene Gedanken zu machen, anstatt einfach das zu tun, was einem gesagt worden war. Ob es in der Allianz genauso schlimm war? Die Allianz war einhundert Jahre lang nicht in der Lage gewesen, die Syndikatwelten zu besiegen. Das hatte sich erst geändert, als Black Jack zurückgekehrt war, was bedeuten mochte, dass in der Allianz wohl auch nicht alles perfekt war.
Aber bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er Kontakt mit den militärischen Führern der Allianz aufgenommen hatte, war er auch nie auf die Idee gekommen, sich als CEO Drakon vorzustellen. Die waren alle Generäle und Admiräle – war er das etwa nicht? »Verdammt noch mal, ich bin ein Soldat.«
»Jawohl, Sir«, stimmte Malin ihm zu. »Vielleicht könnten diese neuen Titel dazu beitragen, dass die Truppen von einem neuen Lebensgeist erfüllt werden.«
Ein trügerisch sanft klingender Alarm ertönte, Drakon warf einen Blick auf die eingehende Nachricht. »Zwischen einem Kreuzer der mobilen Streitkräfte und dem ISD-Hauptquartier ist eine Unterhaltung auf CEO-Ebene festgestellt worden.«
Morgan fluchte wüst. »Das Miststück will uns ans Messer liefern! Sie weiß, dass wir keinen Rückzieher mehr machen können.«
»Wir wissen, dass Hardrad in den Besitz der zurückgehaltenen Befehle gelangt ist«, konterte Malin. »Vermutlich befragt er Iceni jetzt ebenfalls.«
»Es ist egal, wer von Ihnen recht hat. Wir haben jetzt keine andere Wahl mehr, als vorzurücken.« Keine andere Wahl mehr, als womöglich mitten in den eigenen Untergang zu marschieren. Der ISD hatte Nuklearwaffen unter den wichtigsten Bevölkerungszentren des Planeten platziert, aber deren Sprengung erforderte Codes, die Iceni besaß. Zwar konnten die Schlangen diese Bomben letzten Endes auch ohne Icenis Kooperation zünden, aber das würde viel mehr Zeit in Anspruch nehmen. Wenn sie mit den Schlangen gemeinsame Sache machte, dann konnte der Angriff der Bodentruppen nicht mit einem Sieg enden, sondern nur mit der Verwandlung dieser Stadt in einen glühenden Krater. Allerdings hatten sie inzwischen einen Punkt erreicht, an dem sie die Attacke nur noch abbrechen konnten, wenn sie sich den Schlangen ergaben. »Wir gehen rein.«
Der Timer auf seinem Display näherte sich unaufhaltsam einer Reihe von Nullen, was für ihn hieß, sich jetzt ganz auf den Angriff zu konzentrieren und sich durch nichts ablenken zu lassen. »Alle Sturmeinheiten in Bereitschaft halten. Beginn bei Minute null.« Als der grüne »Go«-Alarm aufblitzte, schickte Drakon einen Befehl ab, der augenblicklich an Transmitter weitergeleitet wurde, die die Mitteilung aus der Atmosphäre des Planeten hinausschickten, damit sie von jeder Orbitalstation und jeder Basis auf allen Monden empfangen wurde, auf denen Bodentruppen und Schlangen anwesend waren. Der Befehl konnte maximal mit Lichtgeschwindigkeit gesendet werden, sodass es mehrere Minuten bis hin zu Stunden dauern konnte, ehe er auch die entlegensten Einrichtungen erreicht hatte. Allerdings trafen Meldungen über die Angriffe auf dem Planeten zwangsläufig auch nicht schneller ein, sodass seine Leute den Befehl zur Attacke mindestens einige Sekunden früher erhielten, bevor die Schlangen an ihren Standorten davon erfuhren, was sich auf dem Planeten abspielte.
Mit der nächsten Bewegung wechselte er das Komm-Band auf die Frequenz, die ihn mit jenem Teil der Angriffsstreitmacht zusammenschloss, der von ihm persönlich angeführt wurde. Mit einer Mischung aus Entsetzen und Begeisterung spürte er, wie sein Adrenalinspiegel zu steigen begann. Während er im Begriff war, diesen Angriff zu starten, zuckten vor seinem geistigen Auge die Bilder von hundert früheren Kämpfen und Schlachten vorbei, die er alle überlebt hatte. »Sturmeinheit Eins, feuern und vorrücken!«
Ein hundert Meter breiter Streifen aus Marmor, Rasen und Stein, frei von jeglichen Hindernissen und jeglicher Deckung, trennte den ISD-Komplex von den umgebenden Gebäuden. Um zivile Aufrührer gezielt unter Beschuss zu nehmen, genügte dieser Abschnitt, und selbst ein kleinerer Trupp Soldaten hätte bei einem Angriff auf den Komplex keine Chancen gehabt. Doch kein Gebäude ließ sich so konstruieren, dass es einem Massenansturm von Soldaten etwas entgegensetzen konnte, die sich so dicht an ihrem Ziel befanden und so schwer bewaffnet waren.
Drakon hörte auf seinem Komm-Band einen aus Zorn und Trotz geborenen Aufschrei, als seine Soldaten das Feuer auf die verhassten Schlangen eröffneten. Die Sprengteams feuerten Salven in den zweilagigen Zaun rund um den Komplex, die große Löcher in das Hindernis rissen und die Minen zwischen den beiden Zäunen zur Detonation brachten, sodass die Sensoren zerstört wurden. Andere Teams schossen mit panzerbrechender Munition auf die in regelmäßigen Abständen um das Gebäude herum angeordneten Wachtürme, die zum Teil vollautomatisiert, zum Teil aber auch mit Schlangen des ISD besetzt waren. Doch die waren bereits tot, bevor sie herausfinden konnten, wer sie da eigentlich gerade angriff.
Während die äußeren Verteidigungsringe von allen Seiten gleichzeitig komplett in die Luft gejagt wurden, feuerten andere Waffenteams Ausspäh-Salven in der Nähe der Außenmauern des ISD-Gebäudes selbst ab. Dichte Rauchwolken bildeten sich gleich darauf, in denen Infrarot-Köder und radarablenkende Düppel umherschwebten.
Egal bei welchem Angriff er selbst mitgemacht hatte, er konnte sich nie daran erinnern, wie er sich in Bewegung gesetzt hatte. Wie sonst auch hatte er eben noch in der Deckung gekauert, und auf einmal stürmte er bereits über den breiten ungeschützten Streifen, hin zu dem Bauwerk. Er lief mit flachen, schnellen Sätzen, die durch die Assistenzsysteme seiner Gefechtsrüstung unterstützt und spürbar erleichtert wurden. Seine Leute folgten ihm; er nahm sie zu beiden Seiten als dunkle Schemen wahr. Malins Beteuerungen zum Trotz hatte er sich bis zum letzten Moment immer wieder gefragt, ob seine Soldaten tatsächlich die Befehle ausführen würden, wenn dieser Moment gekommen war. Aber das Display seines Helms zeigte Drakon, dass tatsächlich jeder einzelne Soldat sich an diesem Angriff beteiligte.
Feuer zuckte an ihm vorbei, da die Verteidigungssysteme des Gebäudes in der Hoffnung, irgendeinen Treffer zu verbuchen, blindlings zu schießen begonnen hatten. Elektromagnetische Impulssprengladungen gingen ringsum hoch, doch die Impulse, die elektronische Schaltkreise in ziviler Ausrüstung und in standardmäßigen Schutzanzügen durchschmoren ließen, konnten der abgeschirmten Elektronik in der Gefechtsrüstung nichts anhaben. Drakons Soldaten blieben kurz stehen, um das Feuer zu erwidern. Die Gefechtssysteme der Rüstungen markierten dabei die jeweilige Position des Störbeschusses. Dann liefen sie weiter und hielten auf die äußeren Verteidigungseinrichtungen des Gebäudes zu, die unter der lawinenartigen Angriffswelle in rascher Folge verstummten.
Drakon gelangte zu einer massiven Mauer, von der er wusste, dass sich hinter der obersten Schicht aus echten Steinen etliche Ebenen aus Totraum und synthetischer Panzerung verbargen. Die Baupläne für alles, was den ISD-Komplex betraf, unterlagen der höchsten Geheimhaltungsstufe, doch das hatte Malin nicht davon abhalten können, sich sehr fantasievoll in deren System zu hacken und Kopien dieser Unterlagen in seinen Besitz zu bringen. Mehr und mehr von Drakons Leuten erreichten diese Mauer, dann befestigten sie Sprengladungen, die genau so zusammengesetzt waren, dass sie diese spezielle Art der Panzerung aufzubrechen vermochten. »In Deckung!«