»… dann wäre das eine Erklärung«, stimmte sie ihm zu. »Alle sind auf der Suche nach einem solchen Nest.«
Diesmal nickte Drakon und legte etwas von seiner schlechten Laune ab. »Ich wollte darauf hinweisen, wie gut sich Kommodor Marphissa geschlagen hat. Es gab nicht ein einziges Problem bei der Koordination und bei der Versorgung. Ich habe noch nie mit einem besseren Befehlshaber der mobilen Streitkräfte zusammengearbeitet.«
»Es freut mich sehr, so etwas zu hören. Ich will ihr das Kommando über das Schlachtschiff übertragen, sobald es einsatzbereit ist.«
»Damit wird sie ohne Probleme zurechtkommen«, sagte Drakon. »Aber ich hoffe, ihre Befehlsgewalt wird sich nicht nur auf dieses Schiff beschränken. Sie hat Formationen und mehrere Einheiten gleichzeitig sehr gut gehandhabt.«
»Das werde ich im Gedächtnis behalten.« Warum überschüttete er Marphissa nur mit so viel Lob? Sie waren beide eine Zeit lang auf dem Schweren Kreuzer unterwegs gewesen. Drakons Stab glaubte mittlerweile, Marphissa arbeite für sie. Hatte er Marphissa also tatsächlich umgedreht? Oder war er zumindest schon weit genug gekommen, um dafür zu sorgen, dass sie bei den mobilen Streitkräften mehr Einfluss bekam? »Sie haben eine große Zahl an guten Werftarbeitern mitgebracht. Sie werden dafür sorgen, dass unser Schlachtschiff viel schneller fertiggestellt wird als bislang erwartet.«
»Wie schnell?«
»Zwei Monate.«
»Damit bleibt immer noch ein verdammt großes Zeitfenster, in dem Bedrohungen auf uns zukommen können«, murmelte Drakon. Als hätte er gemerkt, dass seine Worte als Kritik aufgefasst werden konnten, sah er Iceni an. »Ich sehe ein, dass wir beide so gut wie nichts unternehmen können, um das Schiff eher fertigzustellen. Aber wir werden viele von diesen Arbeitern so bald wie möglich nach Taroa zurückschicken wollen, damit sie mit der Fertigstellung des zweiten Schiffs weitermachen.«
Iceni seufzte frustriert. »Ein Jahr, bis das so weit ist. Hoffen wir, dass uns so viel Zeit bleibt.«
»Offiziell ein Jahr, aber vielleicht lässt sich da noch was machen, indem wir den Arbeitern echte Belohnungen bieten, wenn sie über sich hinauswachsen.« Drakon sah sie fast herausfordernd an. »Womöglich wären Bonuszahlungen an die Arbeiter sinnvoller als an die Executives.«
Verwundert zog sie die Augenbrauen hoch. »Ich hatte Sie gar nicht für so radikal gehalten. Wir dürfen es uns mit den Executives und den Sub-Executives nicht verscherzen. Vielleicht sollten alle einen Bonus abhängig von den tatsächlichen Leistungen erhalten.«
Daraufhin begann Drakon ironisch zu grinsen. »Bonuszahlungen abhängig von den tatsächlichen Leistungen? Und mich bezeichnen Sie als radikal?«
»Wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben, können wir es ja mit diesem System versuchen und sehen, wie es funktioniert. Immerhin wissen wir, dass unsere Leute vom Syndikat-System gedrillt worden sind, sich Bewertungen zu unterziehen. Es könnte Mittel und Wege geben, wie wir sie dazu bringen, dass sie sich ganz darauf konzentrieren, die von uns gewünschten Resultate zu liefern. Gibt es sonst noch was?«, fragte sie dann. Seine seltsame Unruhe machte sie mittlerweile auch nervös. Irgendetwas war vorgefallen – aber was? Togo hatte bislang noch keine Entdeckung melden können, aber seine Quelle war auch nicht so dicht an Drakon dran. »Schön, dass Sie wieder hier sind, General Drakon.«
Er nickte bedächtig, dann stand er auf.
Sie würde bei ihrer besten Quelle nachfragen müssen, aber nicht bloß per übermittelter Nachricht. Trotz aller damit verbundenen Risiken machte diese Situation ein Treffen unter vier Augen erforderlich.
Zurück in ihrem eigenen Büro verriegelte sie die Tür und aktivierte alle Alarmsysteme, dann setzte Iceni sich an ihren Schreibtisch. Warum benahm sich Drakon so, als hätte er ein schlechtes Gewissen? Die wahrscheinlichste und zugleich erschreckendste Erklärung war die, dass er beschlossen hatte, sich gegen sie zu wenden, diese Entscheidung ihm aber aus irgendeinem Grund Unbehagen bereitete.
Sie drehte sich mit ihrem Bürostuhl um und betrachtete einen Teil des virtuellen Fensters hinter ihrem Schreibtisch. Derzeit war dort die Stadt bei Nacht zu sehen, und das aus einem Winkel, als befände sich ihr Büro in einem Hochhaus, und nicht gut geschützt unter der Oberfläche. Die Lichter der Stadt reichten bis an die Küste, dort schlugen Wellen mit phosphoreszierenden Schaumkronen gegen natürliche Felsblöcke und von Menschen erbaute Mauern. Ihre Hand ruhte auf einem Gebäude, das in der Dunkelheit leuchtete und so abgeflacht war, dass es ihre Fingerabdrücke und die Linien auf ihrer Handfläche scannen konnte. Dann verschwand ein Teil des virtuellen Fensters und wurde durch ein leeres Quadrat ersetzt. Nachdem sie sich durch ein halbes Dutzend Zugangs- und Bestätigungscodes gearbeitet hatte, öffnete sich eine kleine Panzertür.
Iceni zog das Dokument heraus, das in der Kammer hinter der Panzertür lag, ein Textausdruck. Sie schlug es willkürlich auf und fand schnell die Buchstaben, die sie benötigte, um eine Nachricht zu verfassen. Eine Nachricht mittels eines Codes aus einem Buch zusammenzustellen war ein langwieriger Prozess, aber immer noch die einzige Methode, die es nach dem Wissensstand der Menschheit unmöglich machte, einen derart verschlüsselten Text zu knacken. Ihre Kontaktperson würde auf die Bitte um ein Treffen nur reagieren, wenn diese Bitte in einer solchen Form bei ihr eintraf.
Schließlich nahm sie aus dem Safe auch noch ein Mobiltelefon, das von keiner bekannten Technologie abgehört oder zu ihr zurückverfolgt werden konnte, und tippte eine Nummer ein. Nachdem sie einen Moment gewartet hatte, meldete sich eine anonyme Mailbox. »Fünf Eins Eins«, sprach Iceni die Seitenzahl auf die Mailbox, dann folgten: »Siebzehn Sechs Zehn« Die Zahlenkombinationen nannten Seite, Zeile und Stellung der Worte in der Zeile, aus denen sich ihre Botschaft zusammensetzte. Dann beendete sie den Anruf und legte das Mobiltelefon zurück in den Safe.
Iceni hielt inne, gerade als sie das Dokument wieder im Safe verstauen wollte. Unzählige Dinge waren über die Jahrtausende hinweg in Schriftform festgehalten worden, der größte Teil davon war in virtueller Form erhalten geblieben, heute begraben inmitten eines Universums aus überlieferten menschlichen Gedanken. Doch gedruckte und gebundene Bücher konnten Leser immer noch in ihren Bann schlagen. Das half dazu beizutragen, dass die Verwendung eines Büchercodes nach wie vor nicht von Unbefugten entschlüsselt werden konnte, auch wenn Computersysteme noch so schnell alles Material zu durchsuchen vermochten. Da kein Ausdruck hinsichtlich Formatierung und Seitenzahl grundsätzlich mit einem anderen identisch war, ließ sich auch kein Schlüssel finden. Um die Nachricht lesen zu können, benötigte man zwei komplett identische Ausdrucke.
Jetzt betrachtete sie das Dokument, das sie wegen seines hohen Alters ausgewählt hatte, und sie fragte sich unwillkürlich, was der Verfasser wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass sein Buch, das er vor so langer Zeit auf der alten Erde im Sol-Sternensystem – der Wiege der Menschheit, die von den Bürgern immer noch als Heimat ihrer Vorfahren verehrt wurde – geschrieben hatte, auch jetzt noch gelesen wurde. »Die Schlacht um Midway«, flüsterte sie und zeichnete mit einem Finger die Worte des Titels nach. Der Name »Midway« auf dem Buch hatte sie aufmerksam werden lassen, als sie auf der Suche nach einem Dokument für genau diesen Zweck gewesen war. Der Name stand für einen anderen Ort, der vor langer Zeit auch umkämpft gewesen war und der genauso hieß wie dieses Sternensystem. Sie hielt sich nicht für abergläubisch, doch sie hoffte, dass der Titel sich als gutes Omen erweisen würde.
Jeder halbwegs vernünftige CEO verfügte über mindestens einen geheimen Ausgang aus seinem Büro oder seiner Wohnung, über einen Fluchtweg, den nur er allein kannte und der so angelegt war, dass niemand ihn beim Betreten oder Verlassen seiner Räumlichkeiten zu sehen bekam. Nicht einmal Togo kannte den Fluchtweg, den Iceni diesmal genommen hatte. Schließlich konnte sie trotz allem keine wirklich hundertprozentige Gewissheit haben, dass sie Togo vertrauen konnte.