Niemandem konnte man bedenkenlos vertrauen. So etwas lernte man schnell, sonst war einem als CEO kein langes Leben beschieden.
Sie trug einen Mantel, der sie vor dem abendlichen Wind schützte, ihr Gesicht verschwand zur Hälfte hinter dem hochgeschlagenen Kragen. Ohne ihre Leibwächter fühlte sie sich regelrecht nackt, auch wenn ihre Kleidung mit aller nur erdenklichen Technologie vollgestopft war, die der Verteidigung diente. Jeder Bürger, der den Fehler beging, sie anzugreifen oder sie berauben zu wollen, würde seinen Irrtum schnell und nachhaltig bereuen.
Verborgene wie auch für jedermann sichtbare Überwachungskameras schauten in ihre Richtung, sobald sie an ihnen vorbeikam, doch sie waren nicht in der Lage, Iceni zu entdecken. Vom ISD geschaffene Codes, die dafür sorgten, dass bestimmte Personen für die Polizei und für andere routinemäßige Überwachungsdienste unsichtbar blieben, erzeugten für die digitalen Sensoren blinde Bereiche, die man sich zunutze machen konnte, wollte man sich unbeobachtet auf der Straße bewegen.
Dann endlich hatte sie ihr Ziel erreicht, eine abgelegene Ecke an einer Haltestelle des öffentlichen Personentransports. Der Ort war weit genug von Menschenmengen entfernt, um zufällige Kontakte zu vermeiden, aber immer noch nahe genug dran, damit man nicht herausstach. Die Geräuschkulisse sorgte zudem für ein anhaltendes Gemurmel, in dem sich eine einzelne Unterhaltung schnell verlor. Iceni lehnte sich gegen eine Wand und suchte in der Menge der Passanten nach der einen Person, mit der sie hier verabredet war. Die wenigsten Fußgänger nahmen Notiz von ihr, wie sie in ihrem unscheinbaren Mantel dastand. Das war nicht die Art, wie sich hochrangige CEOs und Präsidentinnen kleideten, außerdem würde sich weder ein CEO noch eine Präsidentin ohne Leibwächter auf die Straße wagen.
Ein Mann in gleichermaßen unauffälliger Zivilkleidung schlenderte die Straße entlang und machte einen Schlenker, um sich ihr zu nähern. In ihrer Nähe angekommen, lehnte er sich ebenfalls gegen die Wand und hielt eine Hand so gedreht, dass Iceni ein kleines Gerät mit grün blinkenden Lichtern sehen konnte.
Sie nickte und zeigte ihm im Gegenzug ihren eigenen Überwachungsmelder, der mit ebenfalls grüner Anzeige angab, dass niemand sie belauschen konnte. Es war ihre gegenseitige Versicherung, dass sämtliche auf diesen Punkt gerichteten Ausspähsysteme für den Moment umgeleitet oder getäuscht wurden. Die Passanten konnten sie zwar sehen, aber jemand, der über Kameras und andere Geräte seinen Blick auf diese Stelle richtete, würde sie nicht wahrnehmen. Was technische Überwachungssysteme anging, hielten sie beide sich einfach nicht hier auf. Derart moderne Ausrüstung war nicht preiswert, und es kostete auch einige Arbeit, alle notwendigen Codes herauszufinden, mit denen sich die Aufnahmegeräte täuschen ließen, aber darüber zu verfügen, gehörte zu den Vorteilen, die man genoss, wenn man Präsidentin war. »Irgendwelche Probleme?«, fragte sie leise.
»Nein«, entgegnete der Mann, der nicht im Mindesten nervös wirkte, sondern auf einen zufälligen Betrachter vielmehr einen gelangweilten Eindruck machte. »Was ist denn so wichtig? Sie wissen, wie riskant das hier ist.«
»Ich brauche Antworten, und zwar sofort. Und ich muss wissen, dass es die zutreffenden Antworten sind«, sagte Iceni. »Was macht Drakon?«
Der Mann schwieg, doch schien das nicht in einem Zögern begründet, vielmehr überlegte er. »Nichts Ungewöhnliches. Wegen der Rückkehr unserer Brigaden zur Planetenoberfläche hat er momentan alle Hände voll zu tun, außerdem muss er sich um all die Dinge kümmern, die während seiner Abwesenheit liegen geblieben sind.«
»Plant er einen Schlag gegen mich?«
Wieder folgte eine Pause. Der Mann war offenbar von ihrer Frage völlig überrascht worden. »Nein.«
»Falls Sie mich belügen, wird Drakon noch vor oder gleich nach meinem Tod erfahren, wer mich mit Informationen über ihn versorgt hat.«
»Ich habe keinen Zweifel daran, dass er nichts plant.« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Er arbeitet nicht gegen Sie. Das soll natürlich nicht heißen, dass es keinerlei Bedrohung für Sie gibt, aber von ihm geht keine aus.«
»Warum benimmt er sich dann so seltsam?«, wollte sie wissen.
Nun folgte eine längere Pause. »Er hat mit Colonel Morgan geschlafen.«
»Oh.«
Sie fragte sich, wie diese eine Silbe geklungen haben musste, da der Mann sie fast empört ansah. »General Drakon hatte getrunken, sie hat das ausgenutzt und diese eine Nacht mit ihm verbracht. Er hat deswegen jetzt ein schlechtes Gewissen.«
»Sie machen Witze.« Sie hätte schon blind sein müssen, um nicht zu erkennen, wie begehrenswert Colonel Morgan für einen Mann sein musste. Außerdem war sie alt genug, um zu wissen, dass Männer nicht perfekt waren, vor allem wenn es um ihr Verhältnis zu Frauen ging. Dennoch verspürte sie immer noch Enttäuschung, wenn ein Mann nicht ihre in ihn gesetzten Erwartungen erfüllte. »Nur eine Nacht?«
»Ja, und es wird keine Wiederholung geben.«
Etwas an seinem Tonfall machte sie stutzig. »Was stört Sie daran?«
»Sie wissen, ich vertraue ihr nicht. Meine Befürchtung ist, dass sie eine ganz andere Absicht damit verfolgte, General Drakon zu verführen, und dass sie diese Nacht irgendwann zu ihrem Vorteil nutzen wird.«
»Wenn er sich eine verrückte Hure in sein Bett holt, dann muss er damit rechnen, dass es Probleme gibt«, gab Iceni zurück und bemerkte dabei, wie wütend sie sich anhörte. Man hätte meinen können, dass sie diesen Zwischenfall persönlich nahm. Was natürlich völlig lächerlich war.
»Sie ist nicht verrückt, jedenfalls nicht in der Art, die Sie meinen. Morgan legt immer wieder ein Verhalten an den Tag, das andere dazu veranlasst, sie zu unterschätzen. Genau das hat sich aber bei vielen als der letzte Irrtum in ihrem Leben erwiesen. Sie ist sehr gut sowohl in kurzfristigen wie in langfristigen Plänen. Und sie verfolgt auch jetzt wieder einen. Nehmen Sie sie nicht auf die leichte Schulter.«
Iceni schnaubte gereizt. »Vielleicht wären wir unter diesen Umständen ohne sie besser dran, anstatt uns Sorgen machen zu müssen. Ganz gleich, wie gefährlich sie auch ist, sie kann eliminiert werden. Niemand ist unbesiegbar.«
»Von einer solchen Vorgehensweise muss ich dringend abraten. Ich würde mich auch nicht daran beteiligen.«
Jetzt gesellte sich auch noch Frust zu ihrer Verärgerung. »Sie hassen sie doch so wie jeder andere auch. Sie selbst haben sogar schon versucht, sie zu töten. Und mir wollen Sie jetzt davon abraten?«
Colonel Bran Malin verzog den Mund. »Ich habe nicht versucht, sie zu töten.«
»Wieso nicht?«
Abermals hielt er eine Weile inne. »Drei Gründe. Erstens: Sie ist hart im Nehmen und sehr intelligent. Jeder Attentatsversuch wäre ein mühsames Unterfangen, und die Folgen eines Scheiterns wären gravierend. Zweitens schätzt General Drakon ihre Ratschläge und ihre Fähigkeiten. Fände er heraus, dass jemand einen Anschlag auf Morgan geplant hat, dann wäre er sehr unglücklich. Und wenn ich dabei auch noch eine Rolle spielen würde, dann hätte ich nie wieder eine Chance an ihn heranzukommen. Nicht mal mir würde er einen Anschlag verzeihen, der sich auf einen aus seiner Sicht treuen Untergebenen richtet. Ich hatte meinen Platz an seiner Seite beinahe verspielt, nachdem es zu diesem … Missverständnis gekommen war, als der Angriff auf die Orbitaleinrichtung hier im System stattfand. Hätte ich im Verlauf dieses Vorfalls nicht jemanden getötet, der seinerseits eindeutig Morgans Tod wollte, dann wäre es mir nicht möglich gewesen, Drakon vom Gegenteil zu überzeugen. Und er hätte mir niemals verziehen. Wenn er Sie im Verdacht hätte, an einem Attentatsversuch auf Morgan beteiligt zu sein, könnte das für ihn Grund genug sein, Sie aus dem Weg zu räumen, weil er dann davon ausginge, der Anschlag auf Morgan sei nur eine Vorstufe zu einem Angriff auf ihn selbst.«