Wie nicht anders zu erwarten, kämpfte die zweite Viper unverdrossen weiter und richtete schließlich die Waffe gegen sich selbst, um zu verhindern, dass sie von denjenigen lebend gefasst wurde, die von ihr unterdrückt und gequält worden waren.
»Dort entlang!«, befahl Drakon dem anderen Zug, dann rückte er mit seiner eigenen Gruppe tiefer in den Komplex vor und folgte den Anweisungen auf dem Helmdisplay, die ihn zur ISD-Kommandozentrale führten.
»… ebene frei!«, hörte er Morgan rufen, dann brach die Verbindung ab.
»Morgan! Falls Sie mich hören können, schicken Sie ein paar Züge rauf, damit die in den oberen Ebenen aufräumen. Der Rest soll zu uns nach unten kommen!« Laut der zusammengetragenen Informationen sollten die oberen Etagen kaum verteidigt sein, da sie für Angriffe und Bombardements als zu verwundbar galten. Demnach hielten sich dort oben auch die wenigsten höherrangigen Angehörigen des ISD auf, und die würde man immer noch bequem einsammeln können, wenn die unteren Ebenen erst eingenommen worden waren.
Er wusste nicht, ob der Befehl bei Morgan angekommen war, doch auf seinem Display sah er Gruppen von Sturmtruppen, die sich durch Korridore auf die nächsttiefere Ebene begaben, während die Symbole des Kontakts mit Ansammlungen von Verteidigern aufblinkten und dann wieder erloschen, weil die Soldaten eine andere Richtung einschlugen oder aber genau diesen Posten soeben überrannt hatten.
Etwas traf Drakon an der Schulter und warf ihn nach hinten, im nächsten Moment eröffneten die Soldaten um ihn herum das Feuer auf einen weiteren Verteidigungsposten der Vipern ein Stück voraus. Einer der Männer richtete ein gedrungenes Rohr auf die gegnerische Stellung und feuerte, dann folgte eine so gewaltige Erschütterung, dass die Soldaten rund um Drakon den Halt verloren und zu Boden gingen.
Er lag da und blinzelte einen Moment lang, während seine Rüstung mit Alarmtönen auf Schäden aufmerksam machte und einen Beinahebruch der Panzerung an der Stelle meldete, an der er von der Viper getroffen worden war. Sein Blick auf das aktuelle Geschehen war diesmal vollständig unterbrochen worden, und für den Augenblick konnte er außer Chaos nichts sehen und fühlen. Drakon versuchte, seine Nerven in den Griff zu bekommen und sich mit aller Macht zu konzentrieren, bis das Durcheinander auf seinem Display wieder einen Sinn ergab. Dann zwang er sich aufzustehen, während seine Soldaten um ihn herum schon wieder auf den Beinen waren und zum Ende des Korridors stürmten, wo benommene Vipern krampfhaft versuchten, wieder zur Besinnung zu kommen; aber noch lange bevor sie sich hätten aufrichten können, wurden sie von den Salven ihrer Angreifer niedergemetzelt. Als Drakon die Schlangen sterben sah, stellte er fest, dass das bei ihm keinerlei Gefühlsregung auslöste. Für den Augenblick hatte er auch Gefühle wie Erleichterung und Rachsucht erfolgreich aus seinem Verstand verdrängt.
Ein weiterer Soldat tauchte aus dem Rauch aus, er kam durch ein Loch in der Wand, das die Erschütterungsmunition verursacht hatte. »Alles in Ordnung, Sir?«, fragte Malin.
»Ja.« Drakons Display gab an, dass sie nicht mehr weit von der Kommandozentrale entfernt waren, die noch eine Ebene tiefer untergebracht war. »Mit wie vielen Leuten sind Sie hier?«
»Zwei Trupps.«
»Ich habe noch den größten Teil von drei Trupps. Gehen Sie in diese Richtung und versuchen Sie, über der Kommandozentrale ein Loch in den Boden zu sprengen. Das lässt die Schlangen womöglich glauben, dass wir nur versuchen, auf dem Weg zu ihnen vorzudringen. Ich gehe inzwischen mit meinen Leuten runter, dann schlagen wir von Osten kommend zu.«
»Ja, Sir.« Malin verschwand in dem als Gegenmaßnahme erzeugten Nebel, dann eilte Drakon mit seiner kleinen Streitmacht eine Treppe nach unten, die ungewöhnlich lang war dafür, dass sie nur das eine Stockwerk mit der Etage unmittelbar darunter verband. Aber diese Tatsache bestätigte Drakon nur, dass die gestohlenen Baupläne echt waren, hatten die doch eine massive Panzerung in der Decke über der Kommandozentrale erkennen lassen. Der vorderste Soldat der Gruppe erreichte endlich einen Treppenabsatz, wurde dann aber sofort seitlich zurückgeschleudert, als die Treppe von der Explosion einer Mine erschüttert wurde. Drakon überwand mit einem Satz das Loch im Boden und folgte seinen Soldaten, die bereits durch den nächsten Korridor hetzten.
Aus diesem Korridor begegnete ihnen weiterer Beschuss, sodass Drakon und seine Leute gezwungen waren, sich nahe der Wand hinzukauern und in Deckung zu gehen. Sein Atem ging schwer, das Gesicht war unter dem Helm seiner Rüstung nass geschwitzt, weshalb er wünschte, er könnte es sich mit einem Lappen trocken wischen. Und er wünschte, sie hätten noch eine Erschütterungsbombe griffbereit.
Der Anführer einer Subsektion warf sich neben Drakon zu Boden. »Wir halten das für automatisches Feuer, Sir. Eine letzte Verteidigungsmaßnahme vor dem Zugang zur Kommandozentrale und zur Zitadelle.«
»Verdammt massiver Beschuss für eine letzte Maßnahme«, grummelte Drakon und scrollte sich durch sein Display. Wenn die Anzeigen trotz der Interferenzen stimmten, dann war es Malin noch nicht gelungen, einen Weg durch die gepanzerte Decke der Zentrale freizusprengen, auch wenn das in erster Linie als Ablenkungsmanöver gedacht war, während weitere Einheiten von anderen Seiten versuchten, sich Zugang zur Zentrale zu verschaffen. Wie viel Zeit bleibt uns noch, bis die Schlangen ihre Nuklearbombe zünden? Iceni hat mir zwar erklärt, dass es ohne die von der System-CEO unter Verschluss gehaltenen Codes einige Zeit dauern würde, um diese Sicherungsvorkehrungen zu umgehen, aber sie konnte mir nicht sagen, wie groß dieser Zeitraum ist.
Der gesamte Komplex wurde von einer langanhaltenden Detonation erschüttert, die so gewaltig war, dass Drakon bereits zu überlegen begann, ob das ganze Gebäude gleich über ihnen zusammenbrechen würde. Der Explosion folgte ein langes, undeutliches Zittern, als würden tatsächlich einige Teile einstürzen. Drakon verspürte einen eisigen Schauer, und es war fast so, als würde er vor Angst erstarren, dass Hardrad doch von Iceni die Codes erhalten haben könnte oder dass er es auch ohne ihre Hilfe geschafft hatte und nun seine Drohung in die Tat umsetzte und die Stadt zerstörte.
Aber sein Anzug hatte keine erhöhte Strahlung festgestellt, und die Schockwelle schien eher innerhalb des Gebäudes ihren Ursprung zu haben. Sie kam ihm nicht vor wie ein seismischer Stoß, wie ihn die Detonation einer unter der Planetenoberfläche versteckten Bombe hätte auslösen müssen.
Plötzlich fiel ihm auf, dass das Abwehrfeuer der oberen Ebenen ganz erheblich nachgelassen hatte. Sein Display zeigte ihm nur noch die Grundrisse des Gebäudes, erst ein paar Sekunden später erwachte das Bild wieder zum Leben, das Auskunft über die Truppenbewegungen gab – und das erkennen ließ, dass Sturmtruppen auf der gegenüberliegenden Seite in die Kommandozentrale strömten. Rote Symbole, die Schlangen und Vipern darstellten, entfernten sich in rascher Folge. Manche erloschen, als wären sie getötet worden, andere bewegten sich auf den Korridor zu, in dem Drakon sich aufhielt.
»Position halten!«, rief er seinen Leuten zu. »Schlangen auf dem Weg hierher!«
Gepanzerte Gestalten tauchten vor ihnen auf, dazwischen ein paar Leute, die nur Schutzanzüge trugen. Alle waren sie auf der Flucht – und dabei liefen sie Drakons Männern genau in die Arme. Er und seine Soldaten eröffneten das Feuer und mähten die Fliehenden nieder, als die versuchten, aus der Falle zu entkommen, in die sich ihre eigene Kommandozentrale verwandelt hatte.
Die letzte der besiegten Schlangen blieb stehen und hielt kapitulierend die Hände ausgestreckt, gleich darauf wurde sie nach hinten gerissen, als ein Schuss sie mitten in die Brust traf. »Hoppla«, sagte ein Soldat ohne jede Gefühlsregung. »Da ist mir doch glatt der Finger abgerutscht.«