Drakon machte sich nicht die Mühe, den Soldaten nach seiner Identität zu fragen. Er hatte von Anfang an gewusst, dass die Schlangen nicht mit Nachsicht oder Gnade rechnen durften, hatten sie doch die Bevölkerung auch ohne jegliche Nachsicht und Gnade drangsaliert.
Einen Moment lang herrschte Ruhe. Drakon fluchte, da sein Display wieder zu flackern und zu rauschen begann. Grüne Symbole leuchteten am anderen Ende des Korridors auf, gleichzeitig verstummte die automatische Verteidigungsanlage. Augenblicke später funktionierte das Display wieder einwandfrei, da die letzten Störsender der Schlangen abgeschaltet worden waren und ordentliche Verbindungen zu den Soldaten wiederhergestellt wurden, die überall in den Überresten des ISD-Gebäudes unterwegs waren.
Er ging auf die Soldaten zu, die ihm entgegenkamen, und hörte ihren Jubel ebenso wie den ihrer Kameraden. Wie es schien, war die Komm-Disziplin völlig vergessen worden, da die Soldaten den Tod der gefürchteten Schlangen und damit den Beginn einer Freiheit feierten, wie sie sie nie zuvor erlebt hatten.
Diese Freiheit könnte später noch zu Schwierigkeiten führen, und vermutlich würde sie das auch, aber damit konnte er sich immer noch befassen, wenn jener Augenblick eintreten würde.
Drakon betrat die Kommandozentrale, in der immer noch Rauch- und künstliche Nebelschwaden umhertrieben. Die Konsolen und Arbeitsstationen waren aus nächster Nähe zerschossen oder von Sprengladungen zerrissen worden, tote Schlangen und auch ein paar gefallene Soldaten lagen auf dem Boden verstreut. In der gegenüberliegenden Wand klaffte ein gewaltiges Loch.
Morgan kam ihm durch den Rauch und Nebel entgegen, ihre Panzerung war von etlichen Treffern mit Narben überzogen worden, aber kein Geschoss war durchgedrungen. Sie tippte mit der rechten Faust gegen die linke Brust, um zu salutieren. »Sämtlicher Widerstand wurde neutralisiert, Sir.«
»Was um alles in der Welt hat denn dieses Loch in die Wand gerissen?«, wollte Drakon wissen.
Sehen konnte er Morgans Grinsen nicht, aber er hörte es aus ihrer Stimme heraus. »Die Ingenieure haben sechs Mauerbrecher zusammengeschlossen und so geschaltet, dass immer zwei gleichzeitig hochgegangen sind, Sir.«
»Sechs Stück? Woher wussten Sie, dass das nicht das ganze Gebäude zum Einsturz bringen würde?«
»Die Ingenieure meinten, das sei sicher, Sir. Oder besser gesagt, sie waren ziemlich zuversichtlich, dass das Bauwerk nicht zusammenbricht.«
Ziemlich zuversichtlich. Er wusste genau, wer den Ingenieuren den Befehl gegeben hatte, die sechs Mauerbrecher zusammenzuschließen. »Gute Arbeit, Morgan.«
Auch Malin kam zu ihm, seine Rüstung war weitestgehend unversehrt, doch die Waffe glühte noch von der Hitze, die sich infolge der extrem hohen Schussfrequenz gestaut hatte. »Ich konnte mit einem Gefangenen reden, bevor er starb. Sie haben versucht, die geheimen Nuklearsprengsätze zu zünden, von denen einer hier unter der Stadt liegt, aber sie waren immer noch drei Minuten von der letzten Feuerfreigabe entfernt gewesen.«
»Drei Minuten?« Dann hatte Hardrad gelogen … und Iceni hatte sie nicht verraten. »Wenn sie diese Codes in Besitz gehabt hätten, hätten wir es niemals bis hierher geschafft.«
»Richtig, Sir. Schon gut, dass CEO Iceni diese Aktivierungscodes tatsächlich für sich behalten hat.«
»Wo ist CEO Hardrad?«, wollte Drakon wissen, während er sich in der verwüsteten Kommandozentrale umsah.
»Tot, Sir«, erwiderte Morgan.
»Das ist das, was er ist. Aber wo ist er?«
»Was noch von ihm übrig ist, finden Sie in seinem Büro.« Morgan zeigte zu einer Seite. »Er war damit beschäftigt, die Sprengcodes herauszufinden, als sein Gehirn mit einem Mal zum Wandschmuck wurde.«
Drakon musste nicht erst überlegen, wer Hardrad wohl das Hirn weggeschossen hatte, aber er konnte Morgan nicht vorwerfen, übereilt gehandelt zu haben, wenn er gleichzeitig wusste, was der Mann vorgehabt hatte. Vielleicht war er ja auch nur Sekunden davon entfernt gewesen, die Bomben zu zünden. »Lassen Sie das Büro von einem Team auf den Kopf stellen und nachschauen, ob da noch Fallen lauern oder ob noch irgendwas in Betrieb ist, was nur den Anschein erweckt, als wäre es abgeschaltet.«
Malin leitete den Befehl weiter, dann lauschte er einen Moment lang, schließlich machte er mit einer ausholenden Geste auf sich aufmerksam. »Die Sturmeinheiten aus den anderen Städten haben sich gemeldet. Die Sub-CEOs Kai, Rogero und Gaiene teilen mit, dass die drei ISD-Subkomplexe eingenommen worden sind. Die übrigen ISD-Stationen sind alle gestürmt worden. Ohne Unterstützung durch die Subkomplexe und die Zentrale hier sind sie hilflos. Der Planet untersteht ihrer Kontrolle, Sir.«
Damit blieben immer noch die Orbitaleinrichtungen, aber sollten die Angriffe dort fehlschlagen, würde man im schlimmsten Fall hinfliegen und dort oben sauber machen müssen. Drakon lächelte, sein Atem beruhigte sich allmählich, und der ganze Körper ließ den aufgedrehten Gefechtsstatus hinter sich. Wieder sah er sich die rauchende Trümmerlandschaft an, die vor Kurzem noch die ISD-Kommandozentrale und damit eines der Autoritätszentren der Syndikatwelten in diesem System gewesen war. Diese Autorität war nun gebrochen. »Dann besteht meine erste Amtshandlung darin, bei den Bodenstreitkräften das alte System der militärischen Dienstgrade wiedereinzuführen. Ich bin ab sofort General Drakon, nicht CEO Drakon. Sagt Ihnen das zu, Colonel Morgan?«
»Ja, Sir!«, rief sie begeistert. »Ich nehme an, Major Malin stimmt dem auch zu.«
»Bran ist ebenfalls ein Colonel, Roh.«
Malin zeigte auf Morgan. »Ich dachte, sie wäre mehr daran interessiert, dass sie selbst über ihr eigenes Maß an Kompetenz hinaus befördert wird. Oh … Moment mal … das ist ja schon viel früher passiert.«
»Sie sind beide Colonels«, sagte Drakon. »Ende der Diskussion. Colonel Malin, teilen Sie den Sub-CEOs Kai, Rogero und Gaiene bitte mit, dass sie ab sofort auch Colonels sind. Colonel Morgan, lassen Sie bitte den gesamten Komplex durchsuchen. Ich möchte Gewissheit haben, dass uns keine Schlange entkommen ist oder sich hier noch irgendwo versteckt hält.« Er betrachtete die zerschmetterten Konsolen und Pulte und musste darüber nachdenken, wie lange dieser Planet, dieses ganze System von diesem Raum aus beherrscht worden war. »Jeder Widerstand von Loyalisten und allen anderen, die sich gegen uns erheben wollen, braucht seine Zeit, um sich zu organisieren. Unsere momentane Sorge betrifft allein die Kriegsschiffe da oben.«
»Kriegsschiffe? Werden wir etwa ganz und gar nostalgisch? Aber egal, wie wir sie nennen, wir haben keine Möglichkeit, ein orbitales Bombardement zu verhindern!«, stellte Morgan fest.
»CEO Iceni verfügt über einige Erfahrung mit Weltraumgefechten. Hoffen wir, dass das genügt.«
»Wir sollten vor allem hoffen, dass sie immer noch unsere Verbündete ist und nicht längst plant, alle Konkurrenten in diesem Sternensystem aus dem Weg zu räumen«, ergänzte Morgan im Wegdrehen. »Ansonsten erwartet uns in ein paar Stunden eine unangenehme Überraschung.«
An Bord des Schweren Kreuzers C-448 im Orbit um die Primärwelt im Midway-Sternensystem machte die Senior-Schlange soeben den Mund auf, um etwas zu Iceni zu sagen, hielt dann aber verdutzt inne, als ihre eigene Komm-Einheit einen gellenden Alarm ertönen ließ. In diesem Augenblick, in dem die Schlangen kostbare Sekunden vergeudeten, um zu begreifen, dass sich etwas Schwerwiegendes abspielte, gab Iceni Akiri und Marphissa ein knappes Zeichen.
Die Anzüge der Schlangen waren mit verschiedenen Verteidigungsmechanismen ausgestattet, die ihre Träger vor Angriffen schützten, lediglich die obere Hälfte des Halses blieb unbewehrt. Executive Marphissa zog ein Messer, glitt hinter die Senior-Schlange und schnitt dem Mann den Hals so tief auf, dass die Klinge einen Moment lang völlig im Fleisch verschwand. Nur eine der anderen Schlangen zeigte auf diesen unerwarteten Angriff überhaupt noch eine Reaktion, dann lagen sie auch schon alle auf dem Deck, und das Blut bildete rasch größer werdende Lachen um sie herum. Icenis Leibwächter hatte einen Schritt nach vorn gemacht, als er die Klinge hatte aufblitzen sehen, aber dann war er auf seinem Platz geblieben, um zuzusehen, wie die Schlangen getötet wurden.