»Sie haben lange genug unter der Kontrolle der Regierung auf Prime gelebt. Die Syndikatwelten haben viel von Ihnen gefordert und nur wenig dafür zurückgegeben. Angeboten hatten sie Ihnen vor allem Sicherheit, und genau darin haben sie versagt. Die Syndikatwelten haben die eine Flotte abgezogen, die uns lange Zeit beschützt hat, weshalb wir nun schutzlos jener fremden Rasse ausgeliefert sind, die jenseits der Grenze lebt und uns bedroht hat. Ja, ich bestätige hiermit offiziell die Existenz einer Spezies, von der wir eigentlich nur wissen, dass sie eine Bedrohung für uns darstellt. Wir müssen in der Lage sein, uns zu verteidigen, und trotzdem will die neue, illegale Regierung auf Prime uns auch noch die kleine Flotte der mobilen Streitkräfte wegnehmen, die ich für die Verteidigung dieses Sternensystems zusammengezogen habe. Die Regierung der Syndikatwelten hat lange Zeit mit ihrer Überlegenheit geprahlt. Nur sie könne unsere Sicherheit garantieren, hat sie immer behauptet. Und doch hat sie den Krieg gegen die Allianz verloren. Die Allianz-Flotte kam hierher zu uns und hat uns damit das Versagen des Syndikat-Systems vor Augen geführt. Ich will offen zu Ihnen sein. Allein die Angst hat dafür gesorgt, dass wir gegenüber Prime loyal waren. Die Angst vor der Allianz und vor dem ISD … den Schlangen.«
Sie ließ eine kurze Pause folgen, weil sie sich vorstellen konnte, was für ein Schock es für die Bürger sein musste, von einer CEO diesen nur hinter vorgehaltener Hand benutzten Begriff zu vernehmen, der davon zeugte, wie sehr der ISD verabscheut wurde.
»Aber die Schlangen im Midway-Sternensystem sind tot, ausgenommen jene in den Reihen der mobilen Streitkräfte, die dem Kommando von CEO Kolani unterstehen. Die Syndikatwelten sind im Zerfall begriffen. Die Autorität der Zentralregierung schwindet stündlich, und viele Sternensysteme sind mittlerweile in Chaos und Bürgerkrieg versunken. Ich werde verhindern, dass sich hier so etwas ebenfalls abspielt. Ich habe eine Vereinbarung mit der Allianz getroffen, genauer gesagt: mit Black Jack Geary persönlich, dass die Allianz-Regierung mein Handeln anerkennt und unterstützt.«
Sie fragte sich, wie Black Jack wohl reagieren würde, wenn er wüsste, in welcher Weise sie ihre Abmachung interpretierte. Er war schon nicht begeistert gewesen, ihr zuzusichern, dieses Sternensystem gegen die Enigma-Rasse zu verteidigen. Diese Vereinbarung war ohnehin nur zustande gekommen, weil Iceni etwas besessen hatte, was Black Jack hatte haben wollen. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass er nicht in nächster Zeit in dieses Sternensystem zurückkehrte und noch ihre Ansprache an die Bürger mitanhören konnte. Aber selbst wenn … Black Jack hatte eingewilligt, öffentlich nicht zu leugnen, dass der Schutz des Midway-Sternensystems sich nicht nur auf die Bedrohung durch die Enigmas beschränkte.
»Ich werde in Kürze den Kampf gegen CEO Kolani beginnen«, fuhr Iceni fort. »Dabei unterstützen mich die mobilen Streitkräfte, die mir und dem nunmehr unabhängigen Sternensystem Midway ihre Loyalität zugesichert haben. CEO Kolani und den Schlangen an Bord ihrer mobilen Einheiten werden wir es nicht gestatten, dass sie die Bürger in diesem Sternensystem bedrohen. Wir werden von heute an unseren eigenen Weg gehen, der uns Sicherheit und Wohlstand garantiert, aber ohne den Terror des ISD. Für das Volk! Iceni, Ende.«
Als sie fertig war, stützte sie die Ellbogen auf die Armlehnen und verschränkte die Hände, um das Kinn darauf aufzustützen. Sie fühlte sich ein wenig erschöpft, so als hätte sie eine anstrengende körperliche Betätigung hinter sich. Bis zu einer Reaktion von den mobilen Streitkräften um Kolani würde es noch eine Weile dauern, also konnte sie …
Es dauerte einen Moment, ehe sie begriff, was das für ein Geräusch war, das durch den ganzen Kreuzer widerhallte. Sie war bei unzähligen offiziellen Feiern und Zeremonien zugegen gewesen, sie hatte gehört, wie ganze Gruppen von Bürgern gehorsam Parolen sangen oder riefen, die man ihnen vorgab, doch das hier … das war anders. Das war ein wilder, ungestümer Jubel, der mitriss und zugleich erschreckte. Einige Manager auf der Brücke lagen sich in den Armen oder reichten sich die Hände. Eine Sub-Executive im mittleren Alter stand reglos da, während ihr Tränen über die Wangen liefen.
Sub-CEO Akiri saß ein wenig zusammengekauert da, als sei er darauf gefasst, einen Mob abwehren zu müssen. Iceni konnte ihn in diesem Moment nur zu gut verstehen. Währenddessen lächelte Executive Marphissa zufrieden, da der allseitige Jubel der Feiernden nicht abreißen wollte.
Es war nur ein Wort, das sie alle immer und immer wieder riefen: »Iceni! Iceni!« Ihr Name, aus freien Stücken gerufen von Bürgern, die nicht länger unterjocht wurden. Ein Gefühl der Desorientierung überkam sie. Was habe ich getan? Hier spielt sich mehr ab als nur eine Veränderung bei den Titeln derjenigen, die dieses Sternensystem führen.
Mahnende Blicke von Akiri und Marphissa veranlassten die Manager auf der Brücke, ihren Jubel ein wenig zu reduzieren und an ihre Stationen zurückzukehren. Allerdings herrschte eine andere Atmosphäre als zuvor, denn von der düsteren Grundstimmung, mit der die Manager sonst ihren Dienst verrichteten, war jetzt nichts mehr zu spüren.
»Zwanzig Minuten bis zum Kontakt«, meldete der Steuer-Manager und klang fast so, als könne er den Moment kaum noch erwarten.
Iceni schaute auf ihr Display und lächelte zynisch. In zwanzig Minuten bekam sie ihre erste Chance, sich öffentlich zu blamieren. Wenn ihre Idee ein Reinfall wurde und wenn es Kolani gelang, Icenis Schiffen schweren Schaden zuzufügen, dann würde das gesamte Sternensystem es mitansehen können. Ihr Leben lang war Iceni dazu angehalten worden, keine Schwäche erkennen zu lassen, weil ihre Mitmenschen sofort zuschlagen würden, wenn sie Verwundbarkeit oder Unvermögen auf ihrer Seite beobachten sollten.
In zwanzig Minuten würde sich herausstellen, ob das wirklich zutraf. Zumindest wurde sie für den Augenblick nicht von noch mehr Problemen geplagt.
»Wir haben ein Problem«, meldete Colonel Rogero.
Drakons Blick wanderte zu dem virtuellen Fenster gleich neben Rogero, wo eine Videoübertragung eine gewaltige Menschenmenge zeigte, die in einem Park zusammenkam. Der Lärm, den die Menge veranstaltete, war trotz der modulierten Lautstärke nicht zu überhören. »Die Bürger feiern.«
»Gegen Feiern habe ich nichts«, sagte Rogero. »Aber das sieht nicht gut aus. Die Menschenmasse da draußen wird explosionsartig größer, wie eine Sonne, die zur Nova wird. Und was wir an Unterhaltungen auffangen, gerät allmählich außer Kontrolle. Mein Gefühl sagt mir, dass diese Feier bald umschlagen wird.«
»Ein Mob, der sich gegen uns richtet?«
»Nein, es gibt keine bestimmte Richtung, in die sich etwas bewegt. Wir haben tausend ›Anführer‹, die unsere Software in den privaten Komm-Verbindungen festgestellt hat. Es ist völlig chaotisch. Die Gefühle schwappen über, dass alle traditionelle Zurückhaltung und Kontrolle aufgehoben ist. Ich glaube, Sie können sich ausrechnen, wohin das führen wird.«
Drakon nickte. »Unruhen, Plünderungen, Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Wo ist die Polizei?«
»Die hat sich in ihren Wachen verbarrikadiert. Die Polizisten scheinen sich vor dem Mob genauso zu fürchten wie vor unseren Soldaten.«
Das war eine durchaus verständliche Einstellung. »Die Stadtverwaltung?«
»Genau das Gleiche«, antwortete Rogero verächtlich. »Nur mit dem Unterschied, dass diese Leute noch nutzloser sind als die Polizei.« Zwar waren Bürgermeister oder Ratsmitglieder in ihre Ämter gewählt worden, aber die Wahlergebnisse waren schon vor Rogeros und Drakons Zeit komplett manipuliert gewesen, weshalb die angeblichen Wahlsieger in der Bevölkerung alles andere als beliebt waren.