»Wie zuversichtlich sind Sie, dass es gelingt, diese Flotte einzunehmen?«, fragte Drakon.
»Zuversichtlich genug. Einige Schiffe sind bereits auf meiner Seite, darunter auch C-448. Ich habe genügend Commander hinter mir, um Kolani besiegen zu können. Wenn sie sich gegen uns stellt, dann geht sie unter – zusammen mit allen Kriegsschiffen, die ihr treu ergeben bleiben wollen. Es ist natürlich keine wünschenswerte Situation, dass wahrscheinlich einige dieser Schiffe zerstört werden müssen, obwohl wir jedes Einzelne gut gebrauchen könnten. Sie erledigen Ihren Teil der Abmachung und radieren die Schlangen aus, und dann lassen Sie erst mal nichts über die Situation hier am Boden verlauten, während ich da oben beschäftigt bin. Der Mob könnte die Zerschlagung der Schlangen als einen Freibrief für die Anarchie auslegen. Sobald wir unsere Unabhängigkeit erklärt haben, werden wir beide die Kontrolle über dieses System fest in der Hand halten. Unsere Revolte soll die letzte sein, die Midway mitzuerleben hat.«
Offenbar hatte Iceni über die gleichen Dinge nachgedacht, auf die Malin zu sprechen gekommen war, als sie sich gefragt hatte, was passieren sollte, wenn die Schlangen erst einmal tot waren. Drakon konnte nur hoffen, dass er sich mit Icenis Vorstellungen würde anfreunden können. Und er hoffte, dass es nicht zu ihren Plänen gehörte, ihn aus dem Weg zu räumen; war er doch nach Hardrads Eliminierung der Einzige, der ihre Autorität würde anfechten können.
Sie schloss ihre Displays, stand auf und ging zur Tür. »Noch Fragen?«
Drakon nickte und musterte sie aufmerksam. »Ja. Warum machen Sie das alles?«
Iceni blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Ist Eigeninteresse für Sie ein so unvorstellbarer Grund?«
»Ich denke, bloßes Eigeninteresse hätte eine andere Richtung einschlagen können. Sie hätten mich zur Rebellion anstiften können, um mich dann den Schlangen auszuliefern. Die wären davon überzeugt gewesen, dass Sie eine brave und loyale CEO sind, und dann hätten Sie im Schutz dieser Überzeugung Ihre eigenen Interessen verfolgen können.«
Ein kurzes und gänzlich humorloses Lächeln war ihre erste Reaktion. »Dann werde ich Ihnen sagen, dass meine Motivation darin besteht, mich selbst, dieses Sternensystem und die umliegenden Sternensysteme zu schützen. Ich brauche einen sicheren Ort, um meine Macht und meinen Einfluss auszuüben. Midway ist in dieser Region dafür am besten geeignet, weil wir das Hypernet-Portal haben und weil wir von Sprungpunkten umgeben sind, die uns zu vielen Sternensystemen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft bringen. Das politische System der Syndiks ist gescheitert. Dieses System hat den Krieg begonnen, ihn hundert Jahre lang nicht gewinnen können und ihn letztlich verloren. Dieses System hat die Reserveflotte aus Midway abgezogen, obwohl sie das Einzige war, was die Enigmas von einem Angriff abgehalten hat. Wir waren völlig wehrlos, als die Enigmas uns attackierten, und es war die Allianz-Flotte, die uns rettete. Jene Allianz, über die man uns immer erzählt hat, sie sei schwach, chaotisch und korrupt, weil man die Bürger bestimmen lässt, wer sie regieren soll. Wir beide wissen nur zu gut, wie chaotisch und korrupt das System der Syndikatwelten sein kann, und jetzt hat es sich auch noch als schwach entpuppt. Wir müssen etwas anderes versuchen, und wir können uns auf niemanden sonst verlassen. Vielleicht werden wir diesen Versuch mit dem Leben bezahlen, aber ich könnte auch bei dem Versuch sterben, allen Reichtum an mich zu reißen, ein Schiff damit vollzustopfen und von hier abzuhauen, während dieses Sternensystem von den Enigmas und zugleich von jenem Chaos bedroht wird, das nach dem Zusammenbruch der Syndikatwelten einige Systeme erfasst hat. Ich bin eine Pragmatikerin, Artur Drakon. Das sind meine Gründe. Glauben Sie mir jetzt?«
»Nein.« Er setzte das gleiche freudlose Lächeln auf, das Iceni ihm eben noch gezeigt hatte. »Wenn Sie eine Pragmatikerin sind, warum haben Sie dann nicht die Flucht ergriffen, als die Attacke der Enigmas drohte?«
Sie schwieg einen Moment lang, als müsse sie erst überlegen, wie sie darauf antworten sollte. »Weil ich für jeden in diesem Sternensystem verantwortlich war und ich mich nicht in Sicherheit bringen wollte, während alle anderen in der Falle saßen.«
»Dann sind Sie also auch noch Idealistin?«, fragte Drakon mit einem Anflug von Sarkasmus.
»So könnte man es ausdrücken, sofern Sie mich damit nicht beleidigen wollen.« Diesmal lächelte sie spöttisch. »Glauben Sie nicht, dass ich zum Teil auch Idealistin sein kann?«
»Nicht, wenn es ein sehr großer Teil ist. Niemand überlebt als CEO, wenn er einen Funken Idealismus im Leib hat.«
»Ach ja? Und wie sind Sie nach Midway gekommen?«
Zynisch lächelnd erwiderte er: »Ich bin davon überzeugt, dass Sie das längst wissen. Die Schlangen wollten eine meiner untergebenen CEOs festnehmen, aber jemand gab ihr einen Tipp, und sie tauchte rechtzeitig unter. Mir gab man daran zwar die Schuld, aber beweisen konnte es niemand. Also wurde ich nicht exekutiert, sondern hierher ins Asyl geschickt.«
Iceni sah ihm in die Augen. »Jemand, der ein solches Risiko eingeht, um eine Untergebene zu schützen, ist für Sie kein Idealist? Als was würden Sie denn einen Führungsoffizier bezeichnen, dessen Untergebene und Soldaten so loyal zu ihm stehen, dass das Syndikat sie alle gemeinsam herschickt, um sie zu isolieren?«
»Ich tue nur das, was ich für … angemessen halte«, sagte Drakon. »Ich habe keinen Einfluss darauf, wie andere mein Handeln wahrnehmen und wie sie darauf reagieren. Ob ich am Ende überlebe oder nicht, ist eine Frage, die bislang noch nicht beantwortet worden ist. Ich werde tun, was ich tun muss, und ich weiß, was Sie in der Vergangenheit getan haben, um Ihre Macht zu wahren. Aber wenn Sie lieber vorgeben wollen, dass das Ihre Gründe sind, dann bin ich bereit, das so zu akzeptieren.«
»Gut. Solange Sie kein falsches Spiel mit mir treiben. Falls doch …«
»Bin ich dann ein toter Mann?«, fragte er und bemühte sich, beiläufig zu klingen, auch wenn er darauf brannte, endlich zu seinen Soldaten zurückzukehren.
Iceni klang genauso entspannt und gelassen wie er, als sie erwiderte: »Falls doch, werden Sie sich wünschen, Sie wären vorher gestorben.« Sie öffnete die Tür und ging nach draußen, dann wartete sie, bis Drakon ihr gefolgt war, damit sie ihr Büro abschließen und die Alarmanlage einschalten konnte. »Viel Glück.« Mit diesen Worten entfernte sich Iceni zügig, wobei ihre Leibwächter um sie herum ihre Plätze einnahmen.
Eineinhalb Stunden später kniete Artur Drakon in einem anderen Gebäude, aus seiner Schulter ragte eine einzelne, haarfeine Spähsonde heraus, die bis zu einem Fenster und ein Stück weit über die Außenkante reichte, sodass er mithilfe der Sensoren an seiner Gefechtsrüstung die äußeren Bereiche des ISD-Hauptquartiers auskundschaften konnte. Die Zivilisten, die normalerweise in diesem Büro arbeiteten, waren so wie alle ihre in diesem Gebäude beschäftigten Kollegen im Keller in Gewahrsam genommen worden. Ihren Platz hatten nun Soldaten in Gefechtsrüstung eingenommen, die in den Fluren und den nach innen gelegenen Räumen kauerten und darauf warteten, dass der Angriff auf den ISD-Komplex begann. Hoch über ihm beobachtete eine Überwachungskamera den Raum, ohne tatsächlich etwas zu sehen, während irgendwo im Hauptquartier die Systeme eine Bildübertragung auswerteten, die angeblich von dieser Kamera stammte und ganz normale Aktivitäten jener Zivilisten zeigte, die hier üblicherweise arbeiteten.
»Bericht«, befahl Drakon.
Malin meldete sich von seiner Position, etwa ein Drittel entlang des Umfangs der Eingrenzung. »Alles sieht nach Routine aus. Keine Probleme.«
Von der anderen Seite der Eingrenzung antwortete Morgan in einem Tonfall, als ahme sie Malin nach: »Alles sieht nach Routine aus. Aber das ist ein Problem.«
»Was für ein Problem?«, wollte Drakon wissen. Sie sprachen über eine abgeschirmte Komm-Leitung, die über Land verlief und jedes nur denkbare Hindernis mitnahm. Es war zwar ein immenser Aufwand, aber nur so ließ sich die Gefahr verringern, dass jene Elemente der ISD-Ausrüstung, die noch nicht sabotiert worden waren, einen Teil dieser Übermittlungen auffingen. Zwei Dosen, die mit einem Faden verbunden sind. Jahrtausendelang wurde die Kommunikationstechnologie weiterentwickelt, und am Ende müssen wir uns damit begnügen, dass wir uns mit Hilfe zweier Dosen unterhalten, die mit einem Faden verbunden sind.