»Das Problem ist«, führte Morgan aus, »dass alles ganz normal aussieht. Auch wenn wir ihr Spionagesystem an der Nase herumgeführt haben, müssen die Schlangen auf den vielen anderen Wegen, die ihnen zur Verfügung stehen, einfach irgendetwas mitbekommen haben. Aber soweit wir das beurteilen können, haben sie keinerlei Reaktionen gezeigt. Keine Nachrichten an Sie oder sonst jemanden, um sich nach dem Grund für die Truppenbewegungen zu erkundigen. Rings um den Komplex sind allein die routinemäßigen Aktivitäten festzustellen, sonst nichts. Das gefällt mir gar nicht.«
»Es könnte sein, dass sie sich im Unklaren sind«, wandte Malin ein. »Vielleicht versuchen sie, die Bruchstücke zusammenzuführen, die sie überall beobachten. Wir können es uns nicht leisten, das Überraschungselement ungenutzt verpuffen zu lassen.«
»Es ist längst verpufft, Idiot.«
»Das reicht.« Drakon dachte über Morgans Argument nach, während er wieder den Gebäudekomplex betrachtete. »Ich habe heute noch gar keine Nachricht von den obersten Schlangen erhalten, die mir sagt, was meine Truppen denn so treiben; nur damit ich auch weiß, dass sie mich nicht aus den Augen lassen. Ich glaube, Morgan hat recht. Sind jemandem irgendwo Vipern aufgefallen?«
»Nein«, sagte Malin.
»Nein«, antwortete auch Morgan mit einem triumphierenden Unterton in der Stimme.
»Dann verläuft doch nicht alles routinemäßig. Ein paar Vipern sind eigentlich immer unterwegs, um einige Runden zu drehen oder anderweitig zu trainieren.« Drakon atmete wutschnaubend aus. Den Spezialstreitkräften des ISD, denen man den Spitznamen Vipern gegeben hatte, eilte der Ruf voraus, besonders kampferfahren und brutal zu sein. Sie bildeten eine eigenständige Streitkraft, die nur der Inneren Sicherheit gegenüber Rechenschaft ablegen musste, weshalb sie vom Militär der Syndikatwelten umso mehr gehasst wurden.
»Meinen Sie, man hat die Vipern aktiviert?«, fragte Malin, lieferte aber sofort die Antwort auf seine Frage: »Wir müssen davon ausgehen, dass sie das gemacht haben.«
»Richtig. Gepanzert und gefechtsbereit. Das bringt unseren Angriffsplan durcheinander.«
Morgan meldete sich wieder. »Wir müssen mit allem, was wir haben, gegen sie vorgehen. Wenn wir so Gruppe für Gruppe reingehen, wie geplant, dann werden diese Vipern uns in Stücke reißen.«
»Aber wenn wir da reinplatzen, dann ist unser Überraschungsmoment dahin«, hielt Malin dagegen. »Je eher die Schlangen merken, dass wir tatsächlich ihr Hauptquartier stürmen, umso mehr Zeit bleibt ihnen, ihre Vergeltungsmaschinerie zu aktivieren, über die sie garantiert immer noch verfügen. Sie werden sich überschätzen und sicher sein, dass sie allem, womit wir auf sie losgehen, etwas entgegensetzen können. Wir müssen sie ausschalten, bevor ihnen klar wird, dass wir tatsächlich mit genügend Schlagkraft gegen sie vorrücken, um den Komplex einnehmen zu können.«
Beide hatten recht, musste Drakon einsehen. »Wir müssen den Angriffsplan anpassen. Eine Infiltration, die uns den Weg freimacht, wird jetzt nicht mehr funktionieren, auch nicht mit unseren Spähern in kompletter Tarnausrüstung. Aber wir können auch keinen Großangriff starten, weil wir uns dann als eine riesige Zielscheibe präsentieren und die Gefahr besteht, dass CEO Hardrad in Panik gerät und einen verheerenden Vergeltungsschlag auslöst. Anstatt in Truppstärke ins Gebäude zu schleichen, werden wir in Zugstärke von allen Seiten gleichzeitig eindringen und uns den Weg freischießen. Zum ersten Sperrfeuer gehört auch die gesamte Bandbreite an Verschleierungsmaßnahmen. Die Züge müssen so aufeinander abgestimmt werden, dass nirgendwo zu viel Personal gleichzeitig landet und sich irgendwo staut. Das muss schon aus dem Grund verhindert werden, damit die Schlangen nicht auf ihren Außenkameras zu sehen bekommen, mit wie vielen Leuten sie es insgesamt zu tun haben. Sobald wir drinnen sind, rückt jeder Zug so schnell wie möglich zum Operationszentrum der Schlangen vor. Die Vipern werden in der Lage sein, einige Wege zu blockieren, aber sie haben nicht genug Leute, um jeden Zugangsweg zu versperren, den unsere Züge nehmen werden. Wie lange brauchen Sie, bis der geänderte Plan hochgeladen worden ist und alle Leute ihre neuen Befehle kennen?«
»Zwanzig Minuten«, erwiderte Morgan.
»Ich gebe Ihnen eine halbe Stunde«, sagte Drakon, ehe Malin einen noch längeren Zeitraum vorschlagen konnte. Er wusste, dass Morgan dazu neigte, ihre zeitlichen Limits zu knapp zu setzen. »Damit verschiebt sich der Angriffszeitpunkt um fünfzehn Minuten nach hinten. Ich werde die anderen Befehlshaber davon in Kenntnis setzen, dass sie ebenfalls eine Viertelstunde länger warten sollen und dass die Schlangen mit unserem Angriff rechnen. Lassen Sie mich wissen, wenn alles bereit ist.«
Drakon klinkte sich in eine andere Überlandleitung ein, die zurück zu seinem eigenen Hauptquartier führte. »Sub-CEO Kai, ich bin bei einer Besprechung unerwartet aufgehalten worden. Man wartete zwar auf jemanden, aber auf mich war man nicht so richtig vorbereitet. Unser Termin am Nachmittag wird fünfzehn Minuten später stattfinden. Bestätigen Sie das.« Die Nachricht erreichte über eine Überlandleitung sein Hauptquartier, dann würde sie über die normalen Kanäle weitergeleitet, sodass es so erschien, als komme sie aus dem Hauptquartier. Kai antwortete Augenblicke später, dann nahm Drakon mit den Sub-CEOs Rogero und Gaiene Kontakt auf und teilte ihnen das Gleiche mit.
Er hatte eben die Unterhaltung beendet, als sein Komm-System ihn auf einen Anruf von CEO Hardrad aufmerksam machte. Drakon atmete einmal tief durch, zwang seine Nerven zur Ruhe und nahm Haltung und Ausdruck in einer Form an, die nach völliger Routine aussah. Es half ihm, Selbstbewusstsein auszustrahlen, weil er wusste, dass die fünf Untergebenen, die in alle Details eingeweiht waren und die ihn hätten verraten können, loyal zu ihm standen. Malin, Morgan, Rogero, Gaiene und Kai kannten Drakon schon seit Langem. Er hatte keine Bedenken, mit jedem von ihnen jedes Geheimnis zu teilen, und er war davon überzeugt, dass keiner von ihnen Hardrad irgendetwas verraten hatte.
Dann aktivierte er einen digitalen Hintergrund, der vorgaukeln sollte, dass er sich in seinem Büro befand, und nahm den Anruf an.
Hardrad machte einen leicht verärgerten Eindruck, der bereits genügte, um so gut wie jeden Bewohner in diesem Sternensystem vor Angst zittern zu lassen. »Ich muss etwas mit Ihnen besprechen, Artur.« Es war eine Angewohnheit des ISD-CEOs, andere CEOs mit Vornamen anzureden. Das war nicht als Geste der Kameradschaft gedacht, vielmehr wollte er ihren Status im Verhältnis zu seinem eigenen heruntersetzen und so auf eine nicht gerade dezente Weise auf die Macht hinweisen, die er über sie alle hatte.
»Ich höre.«
»Erstens möchte ich wissen, warum Ihr Bild einen gefälschten Hintergrund zeigt«, sagte Hardrad. Natürlich war das den Systemen der Schlangen aufgefallen.
»Ich komme gerade aus der Dusche.«
»Sonderbare Zeit für eine Dusche«, stellte Hardrad fest.
»Nicht, wenn man sich sportlich betätigt. Was wollten Sie mit mir besprechen?«
»Eine Nachricht aus dem Komm-System. Eine für mich bestimmte Nachricht mit hoher Priorität, die trotzdem tagelang in diesem Sternensystem zurückgehalten wurde.«
Drakon legte die Stirn in Falten. »Ist sie auf einem militärischen Kanal gesendet worden?«
»Nein.«
Damit blieb nur noch eine Alternative, schließlich wurden die Komm-Systeme von Iceni kontrolliert, was Drakon und Hardrad beide wussten. Dennoch sprach keiner von beiden ihren Namen aus. Namensnennungen bei einer Unterhaltung zu vermeiden, war eine Vorsichtsmaßnahme, die jedem CEO so in Fleisch und Blut übergegangen war, dass er nicht bewusst daran denken musste. Diese Angewohnheit war nötig, weil die in Nachrichtenübermittlungen nach Informationen und Warnungen suchenden Sicherheits-Bots sich vor allem auf Namen konzentrierten. »Gut«, meinte Drakon. »Wenn bei meinen Systemen ein solcher Fehler auftauchen würde, dann würden dafür Köpfe rollen.«