Wieder schwieg Hardrad einen Moment lang und beobachtete Drakon sehr gründlich. »Ich würde mit Blick auf die Gründe für dieses Versagen gerne unter vier Augen mit Ihnen reden, CEO Drakon. Hier in meinem Hauptquartier. Das Thema ist so sensibel, dass ich eine solche Unterhaltung nicht über Kommunikationssysteme führen möchte.«
Geschickt. Auch wenn er Hardrad für das hasste, was der Mann verkörperte und was er sich in der Vergangenheit herausgenommen hatte, musste er ihn in diesem Moment bewundern. Es war Hardrad gelungen, die Unterhaltung in eine Richtung zu lenken, die es so erscheinen ließ, als würde er Iceni irgendein Fehlverhalten unterstellen und als wolle er nun sein weiteres Vorgehen mit Drakon abstimmen, ehe er zur Tat schritt.
Aber selbst wenn er tatsächlich nicht auf den Gedanken gekommen sein sollte, dass Drakon in diese verspätete Übermittlung des von Prime kommenden Befehls verwickelt sein könnte, beabsichtigte er auf jeden Fall, die in der Order enthaltenen Anweisungen auszuführen. Das hieß, er bestellte Drakon ins ISD-Hauptquartier, um ihn zu befragen und eine komplette Sicherheitsüberprüfung vorzunehmen.
Drakon tat so, als überlege er, was für den heutigen Tag noch auf seinem Terminplan stand. »Also gut. Wie eilig ist das?«
»Je eher Sie hier sind, umso besser. Ich schicke Ihnen eine Eskorte.«
Eine Eskorte. Von wegen. Einen kompletten Zug Vipern in vollständiger Gefechtsrüstung würde er ihm schicken. »Ich möchte nicht, dass irgendetwas die Aufmerksamkeit von irgendwelchen Leuten auf mich lenkt, das werden Sie sicher verstehen. Ich benötige keine Eskorte, meine Leibwächter kommen mit allem zurecht, was sich uns unterwegs in den Weg stellen könnte.« Er sprach seine Worte mit einer ruhigen Arroganz aus, so wie ein CEO von Rang und Namen, der sich seiner Macht bewusst ist. Drakon entging nicht, dass sich Hardrad ein wenig entspannte, in etwa so wie eine Katze, die festgestellt hatte, dass die Maus ihr noch ein Stück entgegenkam und keine Ahnung von der Gefahr hatte, in der sie schwebte. »Wie wäre es, wenn ich mein Büro in … sagen wir, in einer halben Stunde verlasse?«
Diesmal folgte eine noch längere Pause. Drakon begann sich zu fragen, ob ihm inzwischen der Schweiß ausgebrochen war und ob Hardrad ihm das anzusehen vermochte. Aber dann nickte der CEO und lächelte oberflächlich. »In einer halben Stunde. Wenn Sie sich verspäten, werde ich … besorgt sein.«
»Verstanden. Wir sehen uns in Kürze.« Sollte Hardrad diese Leitung mit einem Täuschungsdetektor ausgestattet haben, würde der in Drakons Worten und Tonfall keine Falschheit erkennen können, schließlich entsprach es ja tatsächlich Drakons Absichten, in weniger als einer halben Stunde das ISD-Hauptquartier zu betreten.
Sollte er Iceni warnen, dass Hardrad nun doch den zurückgehaltenen Befehl bekommen hatte, alle CEO einer Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen? Aber Iceni war bereits auf dem Weg zu ihrem Schweren Kreuzer, und es gab keine Möglichkeit, ihr eine Warnung zukommen zu lassen, ohne dass Hardrad diese Übermittlung registrierte. Gerade auf so etwas würde er genau jetzt nur warten, da er hoffte, dass etwaige Verschwörer in Panik gerieten und ihre Komplizen vor dem Zugriff des ISD zu warnen versuchten. »Malin, Morgan, die Schlangen verhalten sich nicht so seltsam, weil sie wissen, was wir vorhaben, sondern weil Hardrad jetzt doch den besagten Befehl erhalten hat und mit Unruhen rechnet, wenn er mich erst mal festgenommen hat. In einer halben Stunde erwartet er mich in seinem Büro.«
Morgan klang so, als hätte sie sich vor Schadenfreude fast verschluckt. »O ja. In einer halben Stunde werden wir alle in seinem Büro auftauchen. Boom, Boom, Baby.«
»Können Sie CEO Iceni die Verzögerung mitteilen, Sir?«, wollte Malin wissen. »Es könnte sie beunruhigen, wenn wir nicht dem Zeitplan entsprechend angreifen.«
»Ihr wird die Verzögerung nicht gefallen. Sie gefällt mir ja nicht einmal. Aber es lässt sich nicht vermeiden. Wenn Sie eine Idee haben, wie wir Iceni eine Mitteilung über die Verspätung zukommen lassen können, ohne dass sie von den Schlangen abgefangen wird, dann lassen Sie es mich wissen.«
Iceni würde einfach darauf vertrauen müssen, dass er sich an die Vereinbarung hielt. Doch es war schon fast unverschämt, dass ein CEO der Syndikatwelten so etwas von einem anderen CEO erwartete.
Er dachte über die mobilen Streitkräfte im Orbit um Midway nach. Zum ersten Mal seit langer Zeit wünschte er, es gäbe da jemanden, den er um Hilfe bitten könnte. Jemanden, der auf das Stoßgebet hörte, dass die eingetretene Verzögerung keine Probleme für Iceni und ihre Pläne für die mobilen Streitkräfte nach sich ziehen sollte.
Die gnadenlosen, knallharten Lebensbedingungen unter der Herrschaft des Syndikats und die wahllose Art, wie der Tod auf dem Schlachtfeld zuschlug, hatten Drakon schon vor langer Zeit jeden Glauben daran verlieren lassen, dass es jemanden oder etwas gab, dem es wichtig war, was mit ihm, Drakon, geschah. In Augenblicken wie diesem fehlte ihm der Trost, den ein solcher Glaube ihm hätte spenden können. Unwillkürlich hoffte er, dass er sich irrte.
Iceni durchschritt zügig den Schlauch, der das Shuttle mit der Einheit C-448, Kreuzer/Schwer/Gefecht, der mobilen Streitkräfte verband, und versuchte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Stattdessen gab sie sich Mühe, leicht stirnrunzelnd dreinzuschauen, ganz wie eine CEO, die es darauf anlegte, ihre Untergebenen schon mit bloßen Blicken in eine besorgte Defensive zu drängen.
Der Befehlshaber der C-448 salutierte auf Syndikat-Manier, indem er mit der rechten Faust leicht die linke Brust berührte. »Willkommen bei meiner Einheit, CEO Iceni. Es ist uns eine Ehre, dass Sie uns so überraschend einen Besuch abstatten.«
Iceni lächelte ihn kurz an. »Vielen Dank, Sub-CEO Akiri. Ich war schon immer der Meinung, dass man nicht jede Inspektion ankündigen sollte. Sind Sie bereit, das Portal zur Hölle zu stürmen?«
Akiri zwinkerte, als er den verschlüsselten Satz hörte, dann atmete er tief durch und rang sich zu einem ruhigen Nicken durch. »Wir sind bereit, Ihnen zu folgen, CEO Iceni.« Dann wandte er sich der Frau zu, die neben ihm stand, und machte eine knappe Geste in Richtung Heck: »Treffen Sie alle notwendigen Vorkehrungen.«
Ihr Lächeln war etwas zu verkrampft und eifrig, dann salutierte sie hastig. »Fünf Minuten.«
Iceni sah der sich entfernenden Offizierin nach und wusste, von ihr war kein Verrat zu befürchten. Executive Marphissa, die stellvertretende Befehlshaberin der C-448, hatte einmal einen Bruder gehabt, der nicht im Kampf gegen die Allianz gefallen war, sondern von der Inneren Sicherheit verhaftet worden war. In deren Gewalt war er dann während eines Verhörs gestorben, was von den Schlangen wie üblich auf »Herzversagen« zurückgeführt wurde. Iceni wusste, wie sehr diese Frau darauf hoffte, ihren Bruder rächen zu können. Finde das passende Werkzeug und benutze es richtig, hatte eine ihrer alten Mentorinnen immer zu ihr gesagt. Wir sind Künstler, Gwen. Künstler, die Menschen benutzen, um den Ausgang eines Ereignisses zu formen. Wähle die richtigen Leute aus, weise ihnen den Weg, den sie ohnehin schon gehen wollen, und dann werden sie deine Arbeit für dich erledigen. Und nach getaner Arbeit hinterlassen sie keinen von deinen Fingerabdrücken, außer natürlich, du willst das Resultat für dich in Anspruch nehmen.
»Sie ist sehr fähig«, sagte Akiri leise, nachdem Marphissa gegangen war. »Aber man darf sie nicht aus den Augen lassen.«