»Wieso hat noch niemand vom Wasser her einen Angriff unternommen?«, wollte Drakon wissen. »Sehr geringe Frontbreite, freies Schussfeld, zerklüftete Riffs ein Stück weit vor dem Ufer, die von engen Kanälen durchzogen sind und sich dazu anbieten, in aller Ruhe auf den Feind zu zielen und zu feuern und ihn mit Minen zu erwarten …«
Sub-CEO Kamara hob flüchtig die Schultern, aber ihre verbitterte Miene widersprach der zur Schau gestellten Gleichgültigkeit. »Es wurde ein paar Mal probiert. Ich habe es versucht, da ich gehofft hatte, die Loyalisten wären dermaßen auf einen Angriff auf dem Landweg konzentriert und von der natürlichen Abwehr entlang der Küste überzeugt, dass sie uns keine Beachtung schenken würden. Das war ein Irrtum, der uns die schwersten Verluste überhaupt beschert hat.«
»Ist CEO Rahmin immer noch Befehlshaberin der Syndikat-Loyalisten?«, erkundigte sich Malin.
»Das war sie bis vor zwei Wochen. Dann gelang es einem Selbstmordkommando der Vereinten Arbeiter, die Interimshauptstadt der Loyalisten zu infiltrieren und sich den Weg bis in ihre Kommandozentrale freizusprengen.« Der Verlust ihrer vormaligen Vorgesetzten schien Kamara nicht zu berühren. »Jetzt hat eine Schlange da drüben das Sagen, CEO Ukula.«
Morgan deutete auf die Karte. »Wenn wir die Schlangen ausschalten, werden die regulären Truppen dann weiter gegen uns kämpfen?«
»Das dürfte davon abhängen, ob sie glauben, dass sie getötet werden, wenn sie sich ergeben.«
»Und? Werden sie das glauben?«, hakte Drakon nach.
»Einige Einheiten haben wirklich üble Grausamkeiten begangen. Sie werden mit einer Kapitulation Schwierigkeiten haben«, erklärte Kamara so gelassen, als würde sie den Wetterbericht verkünden. »Andere haben sich deutlich besser benommen.«
Morgan lächelte. »Dann können wir also die Loyalistensoldaten spalten. Da reicht es schon, wenn wir mit den Einheiten Kontakt aufnehmen, die zu einer Kapitulation bereit sind.«
»Ich kann Ihnen die Standorte dieser Einheiten geben«, sagte Kamara. »Einen heimlichen Kontrakt mit ihnen aufzunehmen, könnte sich …«
»… als gar kein Problem erweisen«, führte Morgan diesen Satz fort, und fügte dann noch stolz hinzu: »Ich komme damit klar.«
Kamara sah sie einen Moment lang starr an, dann wandte sie sich wieder der Karte zu.
Malin strich mit einem Finger über einige versprengte violette Flecken auf der Karte, die sich allesamt auf städtische Regionen bezogen. »Das sind Markierungen für diejenigen Bereiche, die von den Vereinten Arbeitern kontrolliert werden, richtig?«
»Im Großen und Ganzen ja.« Kamaras Miene nahm einen angewiderten Ausdruck an. »Wenn wir die Schlangen überrennen und in der Folge alle Kräfte gegen die Vereinten Arbeiter richten, dann glaube ich, dass sie ziemlich schnell am Ende sein werden. Sie haben sich selbst unterhöhlt. Zugegeben, die Arbeiter hatten miserable Verträge, aber wer sich von denen den Vereinten Arbeitern angeschlossen hat, ist noch viel schlechter dran. Ich sprach doch vorhin von den Angriffswellen, die die Anführer der Vereinten Arbeiter auf uns gehetzt hatten. Bei denen haben sich einige völlig Verrückte an die Spitze gesetzt. Die Opposition in der Führungsriege wurde des Verrats bezichtigt, festgenommen und erschossen. Ein paar sind einfach spurlos verschwunden. Mittlerweile bringen diejenigen, die jetzt noch das Sagen haben, bei Säuberungsaktionen in den eigenen Reihen mindestens genauso viele Leute um, wie unseren Angriffen zum Opfer gefallen sind.«
»Ja, die Revolution frisst ihre eigenen Kinder, sobald ihre radikalsten Protagonisten für Reinheit plädieren«, merkte Malin an. »Das ist in der Geschichte schon unzählige Male vorgekommen. Im Augenblick fühlen sich viele von denen, die nach Stabilität in diesem Sternensystem suchen, zu den Loyalisten hingezogen, damit die sie vor den Freien Taroanern und den Vereinten Arbeitern beschützen. Aber wenn die Loyalisten besiegt werden, dann haben diese Leute nur noch die Wahl zwischen …«
»… zwischen Freiheit und mordlüsternen Irren«, führte Kamara den Satz zu Ende. »Ich schätze, wir stehen momentan ziemlich gut da, wenn die Leute sich für eine von beiden Seiten entscheiden sollen.« Sie sah Drakon an. »Die Loyalisten hatten uns angeboten, gemeinsam gegen die Arbeiter vorzugehen, aber mir war klar, dass ich den Köder nicht schlucken darf.«
Drakon setzte ein schiefes Lächeln auf und freute sich insgeheim darüber, dass Kamara gar nicht erst versucht hatte, dieses Angebot vor ihren neuen Verbündeten geheimzuhalten. Er betrachtete die Karte und vergrößerte einen Ausschnitt, um nach geeigneten Stellen für wirkungsvolle Schläge zu suchen. »Colonel Malin, holen Sie bitte die Colonels Gaiene, Kai und Senski dazu. Wir müssen eine Schlangenjagd planen.«
»Wir können es uns nicht erlauben, einen großen Teil unserer Infrastruktur zu verlieren«, warf Kamara ein. »Den Loyalisten geht es nicht anders, und nur das hat sie bislang davon abgehalten, uns vom Orbit aus mit Steinen zu bewerfen.«
Morgan atmete frustriert aus. »Wir sollen die Loyalisten eliminieren, ohne irgendetwas kaputtzumachen?«
Mit ernster Miene sah Kamara sie an. »Das ist richtig. Die Loyalisten haben sich in einigen extrem wichtigen Einrichtungen auf der Planetenoberfläche festgesetzt. Wenn wir nur Ruinen von ihnen erben, dann könnte ein solcher Sieg nicht sinnloser ausfallen.«
»Jedes Mal, wenn wir die Schlangen bekämpfen, verfolgen die eine Politik der verbrannten Erde«, erklärte Malin. »Sobald sie erkennen, dass die Niederlage unausweichlich ist, werden sie versuchen, uns mit in den Untergang zu reißen.«
»Dann werden wir eben alles tun, die Schlangen glauben zu lassen, dass ihre Lage nicht aussichtslos ist, bis es für sie zu spät ist, noch etwas zu unternehmen«, entschied Drakon. »Colonel Morgan, lassen Sie sich von Sub-CEO Kamara die Identitäten der Einheiten geben, die Sie unterhöhlen wollen, und dann machen Sie sich an die Arbeit. Ich will ebenfalls wissen, um welche Einheiten es sich dabei handelt, damit wir unsere Pläne darauf abstimmen können, sodass wir uns erst einmal die anderen Einheiten vornehmen.«
»Wie oft wollen Sie auf den neuesten Stand gebracht werden?«, fragte Morgan.
»Geben Sie mir Bescheid, sobald es etwas gibt, das ich wissen muss. Ansonsten können Sie frei entscheiden.«
Sie grinste ihn breit an. »Alles klar.«
Kamara räusperte sich. »Zwei Ihrer Kompanien besetzen immer noch die Orbitalwerften. Wir schicken gern einen Teil unserer Miliz rauf, um die Kontrolle zu übernehmen. Dann stehen Ihnen wenigstens all Ihre Truppen zur Verfügung.«
Drakon lächelte sie an. Ich möchte wetten, dass du nur allzu gern die Kontrolle über diese Docks übernehmen würdest. Aber glaubst du wirklich, ich werde sie dir einfach so überreichen? »Da unsere Kriegsschiffe die Werften beschützen, halte ich es für besser, wenn die Flotte es mit unseren eigenen Leuten zu tun hat, falls sich irgendwelche Bedrohungen abzeichnen sollten.«
Nach einer kurzen Pause nickte Kamara. »Ja, das kann ich gut verstehen.«
Wenigstens hatte sie verstanden, dass die Freien Taroaner sich nicht in einer Position befanden, irgendwelche Forderungen zu stellen.
Colonel Rogero kehrte nach einem Koordinierungstreffen mit den Vertretern von Präsidentin Iceni in sein Quartier zurück. Besprechungen mit Leuten, die weit voneinander entfernt waren, stellten kein Problem dar und kosteten auch nicht unnötig viel Zeit, da alle Beteiligten an einem virtuellen Treffpunkt zusammenkommen konnten. Doch trotz aller nur denkbaren Sicherheitsvorkehrungen war es immer noch möglich, solche Gespräche zu belauschen. Bei Routinebesprechungen konnte man damit leben, man wusste schließlich, dass der ISD und womöglich noch andere Leute mithörten. Bei allen wichtigen Angelegenheiten und bei allen Besprechungen, über die niemand sonst etwas wissen sollte, hatte man es sich hingegen zur Angewohnheit werden lassen, in allerletzter Minute ein reales Treffen zu vereinbaren. So war die gesamte Kommunikation viel sicherer, auch wenn es dazu führen mochte, dass man lange Spaziergänge unternehmen musste, während die Dämmerung den Himmel dunkel werden ließ und Straßen in Düsternis getaucht wurden, bis sich die Straßenlampen einschalteten. Er hätte noch in eine Bar oder ein Restaurant gehen können, doch Rogero bevorzugte es, sich in seine Arbeit zu vertiefen. Jedes Mal, wenn er eine Bar oder ein Café aufsuchte, hielt er unweigerlich Ausschau nach ihr, auch wenn er sich vollkommen darüber bewusst war, dass sie gar nicht in der Menge sein konnte, die er beobachtete. Eines Tages werde ich dir einen Drink ausgeben, hatte Bradamont bei ihrer letzten Begegnung gesagt. Eines Tages werde ich dich zum Essen einladen, war seine Antwort darauf gewesen. Keiner von ihnen hatte geglaubt, dass so etwas jemals wirklich passieren könnte, und doch suchte Rogero immer nach ihr.