Die Männer stapften wieder los. Truffaut hatte die Führung abgegeben, denn Nagenguests Stablampe hatte sich als die hellste und stärkste erwiesen.
Diese letzte Treppe war breit. Sie hätten alle drei nebeneinandergehen können. Dann hatten sie den Fuß der Treppe erreicht.
Mike Nagenguest schauderte. Auch Truffaut leuchtete in die riesige Halle, die sich vor ihnen auftat.
Sie war ein gigantisches Massengrab. Skelette lagen in einigen Schichten übereinander. Die Knochen waren ausgebleicht. Einige schimmerten grünlich phosphoreszierend. Noch an den Skeletten war zu erkennen, daß einige der Leichen, bevor sie hier gelandet waren, grausam verstümmelt worden waren. Da lagen gespaltene Schädel, gebrochene Rippen, halbierte und gevierteilte Skelette. Bei einigen Schädeln waren die Becken zertrümmert oder die Kiefer eingeschlagen.
Zeugen eines unsagbare Leides und unsagbarer Grausamkeiten.
Louis und Justin de Lavorne mußten vertiert gewesen sein, denn William Corry zweifelte keine Sekunde darüber, daß diese Knochengruft auf das Konto dieser beiden Henker ging.
„Macht mal die Lampen aus“, sagte William plötzlich. Er hatte etwas entdeckt und wollte sicher sein, daß er sich nicht getäuscht hatte.
Nagenguest und Truffaut knipsten ihre Lampen aus. Dann sahen auch sie es.
Von der anderen Seite, über der Skeletthalde, drang ein leichter, kaum wahrnehmbarer Lichtschimmer herüber. Ohne daß sich die Männer hätten extra absprechen müssen, begannen sie ihren makabren Weg über die Skelette, die teilweise brusthoch lagen. Morsche Knochen zersplitterten unter ihren Tritten und wurden zu grauem Staub. Sie bahnten sich ihren Weg über Brustkörbe, Arme und Beine hinweg auf den Lichtschimmer zu, der sich beim Näherkommen immer mehr als Oval entpuppte und schließlich kreisrund wurde. Dann standen sie unter der Öffnung.
Nagenguest schrie auf. Er war nach dem Gang durch Staub und Knochen auf etwas Weiches getreten. Der Schein seiner Lampe fiel nach unten.
Eine Leiche. Noch keine drei Tage alt. Schußwunde in den Bauch und in die Brust. Diese Leiche ging bestimmt nicht auf das Konto des roten Henkers. Seine Mordinstrumente waren das Beil und das Schafott.
„Ich kenne den Mann“, sagte Inspektor Truffaut. „Er stammt aus Boule. Ich hatte schon eine Menge Kummer mit dem Kerl. Marc Lever hieß er. Doch wie kommt der hierher?“
„Fragen Sie ihn“, meinte William kalt. „Vermutlich gehörte er zu den Leuten, die mir Chantal Valet auf den Hals gehetzt hatten.“
„Ach ja. Ihr Plan“, sagte Truffaut. „Von dem Sie mir vorgeschwärmt haben. Der ist wohl jetzt hinfällig geworden. Chantal Valet konnte nicht mehr auspacken.“
„Wenn Sie nicht schon so betrunken gewesen wären, hätten Sie mitbekommen, daß sie oben in der Bibliothek schon ausgepackt hat. Sie wurde von einem gewissen Pierre Margent zu mir geschickt. Sie sollte mich vom Schloß weglocken, damit dieser Kerl hier in den Gewölben eine Falschmünzerei einrichten hätte können. Die Maschinen und die Druckstöcke sind zur Zeit schon nach hierher unterwegs. Die Planung lief schon lange. Der Marquis de Lavorne, dieser letzte Abkömmling der Verbrecherdynastie, war nur äußerst selten hier auf seinem Schloß. Wenn er wirklich einmal aufgetaucht wäre, hätte man ja für einige Tage den Betrieb einstellen können. Aber was Margent nicht wußte, war die Tatsache, daß der Marquis das Schloß Knall auf Fall an meinen Vater verkauft hatte. Und ihn haben die Gangster als Hindernis umgebracht.“
„War ich wirklich so betrunken? Na ja. Ich erinnere mich jetzt wieder. Aber das befreit mich nicht von meinen Sorgen, wie ich die Geschichte mit den angeblichen Gespenstern meinen Vorgesetzen beibringen soll.“
William schaute hinauf. Über ihm führte ein Schacht in die Höhe. Die Wände waren fugenlos glatt. Unmöglich, da hinaufzuklettern. Doch oben zeichnete sich klein ein kreisrundes Loch ab, das rot schimmerte. Als würden oben Fackeln brennen.
„Schauen Sie mal“, sagte William zu Truffaut. „Dort oben brennt Licht. Fackeln vermutlich. Vielleicht finden wir dort Chantal und ihren Entführer.“
„Vermutlich“, antwortete Truffaut knapp. „Wer sollte sonst die Festbeleuchtung einschalten. Aber wie kommen wir dort hinauf?“
„Wenn wir denselben Weg zurückgehen“, meinte Mike Nagenguest. Er hatte inzwischen die Wände der Grotte abgeleuchtet. „Es gibt keinen anderen Zugang zu diesem Massengrab.“
„So angenehm ist der Aufenthalt hier ohnehin nicht“, meinte Truffaut und machte sich als erster auf den jetzt ausgetretenen Pfad zur anderen Seite der Grotte.
„Einhundertvierundachtzig Stufen“, stöhnte Mike Nagenguest. „Ich habe sie gezählt.“
Doch sie stoppten schon bei der einhundertvierunddreißigsten Stufe.
„Ich könnte schwören“, sagte William Corry. „Dieser Gang war vorher nicht da.“
„Vielleicht haben wir diese Abzweigung vorher doch übersehen“, warf Nagenguest ein, doch er sagte das nur, um sich selbst zu beruhigen. Ein Gefühl der Beklemmung beschlich alle drei Männer. Trotzdem gingen sie durch den Rundbogen. Sie müßten sich, bücken, um nicht mit den Köpfen anzustoßen.
Der Gang war kaum mannshoch. Sie mußten das Kinn an die Brust legen. Aber wenig später wurde er wieder höher. Sie blieben stehen und horchten in die Finsternis, in der nur ihre beiden Lampen brannten. Oasen des Lichts in einer Wüste aus Dunkelheit.
Dann gingen sie weiter. Sie hatten gar keine andere Wahl.
Schließlich landeten sie vor einer eisenbeschlagenen Tür. Durch Ritzen im Holz drang Licht in das Dunkel.
Das flackernde Licht von Fackeln.
William Corry stieß die Tür auf.
Die Folterkammer!
Ein Würgen stieg in seiner Kehle hoch. William beugte sich zur Seite und übergab sich.
Er hatte die zerstückelte Leiche Pierre Margents gesehen…
Hinter William traten Truffaut und Nagenguest in die Folterkammer. Fassungslos starrten sie auf die Überreste Margents. Mit allem hatten sie gerechnet.
Nur damit nicht.
Inspektor Truffaut schluckte. Sein Magen revoltierte. Doch als Angehöriger der Mordkommission machte es ihm weniger aus. Er war abgebrühter. Genauso wie Mike Nagenguest, der nur grau im Gesicht geworden war.
Sie wateten im Blut.
Chantal lag wie tot auf dem Streckbrett. Langsam lösten sich die Männer aus ihrer Starre. Truffaut war als erster bei ihr. Er löste die Spannung der Winde. Es knarrte.
Dann legte er sein Ohr auf die bloße Brust der Frau. Es war noch Leben in ihr. Unglaublich - aber Chantal schlief.
Truffaut tätschelte ihr die Wangen.
Sie schlug die Augen auf und schrie hysterisch. Erst als sie bemerkte, daß sie sich wieder bewegen konnte, wurden ihre Gedanken klar.
„Setzen Sie sich auf“, sagte der Inspektor. „Sie haben es überstanden.“
Chantal setzte sich auf. Nagenguest hatte ihre Beine aus den Lederschlingen befreit. Die Frau fiel in sich zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. Truffaut zog sein Sakko aus und legte es ihr um die Schultern.
Inzwischen war auch William Corry wieder soweit. Er hatte seinen Ekel überwunden. „Was ist mit ihr passiert?“ fragte er.
„Das möchte ich auch gerne wissen“, entgegnete Truffaut. „Aber ich denke, es wird noch einige Zeit dauern, bis Mademoiselle Valet uns das erzählen kann.“
„Es war schrecklich“, sagte sie plötzlich zuckend. „Es war furchtbar. Zuerst Pierre und dann diese Gestalten…“
„Welche Gestalten?“
„… der rote Henker und sein Sohn…“ Chantal schrie auf. Ihr Blick war auf die Überreste Margents gefallen. Sie schlug die Fäuste vor die Augen. „Nein!“