„Haben Sie all die Herrlichkeiten gekocht?“ fragte William.
Die Wangen des Mädchens wurden noch röter. Es nickte.
„Es freut mich, wenn es Ihnen geschmeckt hat.“
„Sind Sie die Köchin hier?“
„Nein. Ich bin die Tochter von Jean Cranisse, dem Gärtner. Mein Name ist Susanne. Wenn Not am Mann ist, helfe ich aus. Würden Sie mir sagen, was Sie heute abend zu essen wünschen?“
„Entscheiden Sie selbst darüber“, meinte William. „Ich verlasse mich ganz auf Sie.“
Er schaute das Mädchen freundlich an. Automatisch verglich er Susanne mit der Frau an seiner Seite. Susanne war fast noch ein Kind und von natürlicher Anmut. In ihrer aufrechten Haltung lag nichts Angelerntes, nichts Einstudiertes. Es war ihre naive Jugend, die sie jedem Mann reizvoll erscheinen lassen mußte. Ihr Haar war zu einem strengen Knoten nach hinten gekämmt. William stellte sich unwillkürlich vor, wie es sich wohl ausmachen würde, wenn es offen auf einem weißen Kissen läge…
„Sie können wieder gehen“, sagte Chantal, der die Blicke Williams nicht entgangen waren. Der junge Mann schaute leicht indigniert, doch er schluckte die Entgegnung, die sich ihm auf die Lippen gedrängt hatte, gerade noch hinunter. So nickte er dem Mädchen nur aufmunternd zu.
„Ein reizendes Kind“, fügte Chantal noch hinzu, nachdem Susanne wieder aus dem Zimmer verschwunden war. „Nur noch ein wenig jung und unerfahren.“
„Das muß nicht unbedingt ein Nachteil sein“, konnte es sich William Corry nicht verkneifen zu sagen. „Sie ist sehr nett.“
Jetzt war die Reihe an Chantal Valet, indigniert zu blicken, doch die Frau beherrschte sich meisterhaft. Ihre Stimme klang schon wieder honigsüß, als sie weitersprach. „Das sagte ich doch auch. Ich beneide sie um ihre Jugend.“
„Dazu haben Sie nun auch wieder keinen Grund“, lenkte William ein. „Sie gefallen mir so, wie Sie sind.“
Sie lächelte ihn gekünstelt an. „Das von Ihnen zu hören freut mich besonders.“
William Corry nahm sich vor, auf der Hut zu sein. Diese Frau hatte etwas vor mit ihm. Sonst wäre sie nicht bereit gewesen, ihn mit allen Mitteln zu umgarnen. Er wollte sehen, wie weit er bei ihr gehen konnte.
„Auf meine Komplimente brauchen Sie nicht stolz zu sein. Ich habe kaum Erfahrungen mit Frauen. Schon gar nicht mit solchen, die nach einer vagen Einladung in das Haus eines wildfremden Mannes gereist kommen. Man nennt sie Partygirls. Stimmt das?“
Chantal biß sich auf die Unterlippe. William sah ihr an, daß sie einem Gefühlsausbruch sehr nahe war. Normalerweise hätte sie jetzt wütend aufstehen und das Zimmer verlassen müssen. Doch Chantal legte nur ihr Eßbesteck beiseite und tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. Es war offensichtlich, daß sie Zeit gewinnen wollte.
„Sie können mich nennen, wie Sie wollen. Aber bedenken Sie dabei, daß Sie mir auch unrecht tun könnten.“
„Sie sind kein Partygirl?“
„Eigentlich sollte ich Sie sitzenlassen. Wie ein Gentleman benehmen Sie sich nicht.“
„Ach, wissen Sie. Ich lege keinen großen Wert darauf, als Gentleman zu gelten. Mein Vater wurde vor drei Tagen in diesem Haus ermordet. Der ganze Gefühlsballast, der damit zusammenhängt, erdrückt mich fast. Ich kann jetzt nicht Süßholz raspeln. Zu einer anderen Zeit würde ich mich vielleicht auch anders verhalten.“
Er hatte ihr eine Gelegenheit zum Einlenken gegeben. Weiter durfte er nicht mehr gehen, wenn er herausbringen wollte, was sie von ihm wollte. William Corry bemühte sich, nicht darauf zu achten, daß er mit einer schönen Frau zusammen war. Er taktierte jetzt als geschickter Anwalt. Chantal fiel auch prompt auf die neue Masche herein. William Corry spielte seine Rolle als offener Amerikaner, der sein Herz auf der Zunge trug, ausgezeichnet.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Chantal. „Ich sehe ein, daß ich mich danebenbenommen habe. All das hier“, sie blickte sich um, „das muß Sie ja bedrücken. Sicher haben Sie Ihren Vater sehr geliebt.“
„Sicher“, bestätigte William. „Das kann einen Mann schon aus der Fassung bringen.“
„Ich fühle mit Ihnen. Wollen wir vergessen, was vorher war? Es war meine Schuld.“
„Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Schon vergessen.“
„Dann werde ich wohl bald wieder aufbrechen. Sehen wir uns später einmal? Bei einer besseren Gelegenheit?“
„Warum nicht?“
„Bald?“
Chantal war aufgestanden. Sie war das personifizierte Mitgefühl.
„Sie können nichts mehr ändern, Monsieur Corry. Was geschehen ist, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Es war dumm von mir, überhaupt hierherzukommen. Ich könnte mich ohrfeigen. Aber ich war einfach zu neugierig auf Sie. Und das meine ich jetzt wirklich ehrlich.“
Das war phantastisch gut gespielt.
„Vielleicht treffen wir uns eher, als ich noch vor wenigen Minuten angenommen hatte…“
„Es würde mich sehr freuen. Sie müssen auf andere Gedanken kommen. Dieses dunkle Schloß hier ist nichts für Sie. Warum kommen Sie nicht gleich mit? Was hält Sie hier noch?“
„Eigentlich haben Sie recht. Ich war noch nie vorher in Frankreich.“
„Dann sollten Sie nicht in dieser Einöde versauern. Sie sind ein junger, kräftiger und obendrein gut aussehender junger Mann.“ Ihre Stimme wurde wieder verlockend.
„Was schlagen Sie vor?“ fragte er.
„Ich kann Ihnen nichts vorschlagen. Sie könnten es als Frivolität auslegen, die hier nicht am Platz ist. So kurz nach dem Tod Ihres Vaters. Sie haben mich schon einmal mißverstanden.“
Das hatte William Corry mit Sicherheit nicht, aber das wußte er auch. Diese Frau wollte ihn vom Schloß wegbringen, und sie mußte einen Grund dafür haben. Konnte er über sie den Kontakt zu den Mördern seines Vaters finden? Er durfte sich diese Chance auf keinen Fall entgehen lassen.
„Ich halte Sie nicht für frivol“, sagte William Corry. „Ich möchte gern mit Ihnen irgendwo hinfahren.“
Chantal Valet lächelte erfreut. Sie konnte es nicht ganz verbergen, daß auch Triumphgefühl durch ihr Lächeln schimmerte.
„Ich freue mich, daß ich Sie umstimmen konnte. Sie werden es nicht bereuen.“
„Frankreich ist sicher sehr schön“, schmunzelte William Corry. Chantal Valet hätte schleunigst das Haus verlassen, wenn sie gewußt hätte, warum William schmunzelte.
Chantal hatte nach dem Essen Kopfschmerzen vorgeschützt und sich hingelegt. William sah einen jungen Mann ihr Zimmer betreten, den er vorher nicht gesehen hatte. Es war ihm aufgefallen, daß der Mann eine Unmenge Pickel im Gesicht hatte. Er hatte ein Tablett mit einem Glas Wasser und einer Röhre Pillen vor sich hergetragen.
Jetzt stand William Corry im weiträumigen Park vor dem Schloß. Es hatte zu regnen aufgehört. Die Sonne lugte schon wieder aus den Nebelschleiern hervor. Dampf stieg aus den Grünflächen gegen den langsam blauer werdenden Himmel. William suchte Jean Cranisse, den Gärtner. Der Butler hatte ihn am Vormittag nicht mehr finden können.
Trotzdem der Park sehr weitläufig war, fand William den Gärtner auf Anhieb. Er machte sich zwischen zwei langgestreckten Treibhäusern zu schaffen und zupfte Unkraut zwischen den Steinfliesen des Ganges heraus, der die Glashäuser trennte.
„Monsieur Cranisse?“
William Corry sprach leidlich Französisch. Er hatte es auf dem College gelernt. Es reichte nicht aus, um über irgendein Gebiet fachzusimpeln, doch für den Hausgebrauch tat es seine Dienste vorzüglich. Corry wollte nicht fachsimpeln. Er wollte sich vom Gärtner den Raum zeigen lassen, in dem er zusammen mit Grenouille die Leiche seines Vaters gefunden hatte. Ein Drang, der tief in seinem Innern saß, zwang William dazu, den Platz zu sehen.
Der Gärtner erhob sich ohne Eile. Er machte keine Anstalten, dem Fremden seine Hand zum Gruß entgegenzustrecken. Jean Cranisse war schon ergraut. Doch sein Gesicht hatte die gesunde Bräune eines Mannes, der sein Leben zufrieden und zum größten Teil draußen in der freien Natur zugebracht hat. Seine Augen waren von der Arbeit in der Sonne zusammengekniffen. Er war etwas kleiner als William und schaute ihn von unten herauf an.