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Im Inneren des Forts ertönte ein Schrei. Und dann weitere Schreie: »Dieb! Dieb!«

»Haltet ihn!«

»Er hat ein Faß gestohlen!«

Flüche, Geheul. Und dann ein Gewehrschuß. Ta-Kumsaw wartete auf den Messerstich des Todes. Doch er kam nicht.

Eine schattenhafte Männergestalt schob sich über die Brustwehr. Wer immer der Mann auch sein mochte, er balancierte jedenfalls ein Faß auf den Schultern. Einen Augenblick torkelte er oben auf den Pfählen des Palisadenzauns, dann sprang er in die Tiefe. Ta-Kumsaw wußte, daß es ein roter Mann war, weil er die dreifache Höhe eines ausgewachsenen Mannes im Sprung nehmen konnte.

Vielleicht war es Absicht, vielleicht aber auch nicht, daß der fliehende Dieb sofort auf Ta-Kumsaw zulief und vor ihm stehenblieb. Ta-Kumsaw sah herunter. Im Sternenlicht erkannte er den Mann.

»Lolla-Wossiky«, sagte er.

»Habe ein Faß«, sagte Lolla-Wossiky.

»Das sollte ich eigentlich zerschmettern«, meinte Ta-Kumsaw.

Lolla-Wossiky legte den Kopf schräg wie der Kardinalvogel und musterte seinen Bruder. »Dann muß ich noch eins nehmen.«

Die weißen Männer, die Lolla-Wossiky jagten, kamen am Tor an, riefen den Wachen zu, sie sollten es öffnen. Das muß ich mir merken, dachte Ta-Kumsaw. Auf diese Weise bekomme ich sie dazu, das Tor für mich zu öffnen. Doch noch während er dies dachte, legte er den Arm um seinen Bruder samt dem Faß. Ta-Kumsaw spürte das grüne Land wie einen zweiten Herzschlag kräftig in seinem Inneren pochen, und als er seinen Bruder festhielt, durchströmte dieselbe Kraft des Landes auch Lolla-Wossiky. Ta-Kumsaw hörte ihn keuchen. Die Weißen kamen aus dem Fort gerannt. Obwohl Ta-Kumsaw und Lolla-Wossiky völlig ungeschützt direkt in Sichtweite dastanden, sahen die weißen Soldaten sie nicht. Nein, sie sahen schon etwas, doch sie bemerkten die beiden Shaw-Nee einfach nicht. Sie rannten an ihnen vorbei, stießen Schreie aus und feuerten blindlings in den Wald hinein. Sie versammelten sich neben den Brüdern, so dicht neben ihnen, daß sie nur den Arm hätten auszustrecken brauchen, um sie zu berühren. Doch sie hoben die Arme nicht; sie berührten die roten Männer nicht.

Nach einer Weile gaben die Weißen die Suche auf und kehrten fluchend und murrend ins Fort zurück.

»Das war dieser einäugige Rote.«

»Der Shaw-Nee-Trunkenbold.«

»Lolla-Wossiky.«

»Wenn ich den finde, bringe ich ihn um.«

»Den roten Bastard sollte man aufhängen.«

All dies sagten sie, während Lolla-Wossiky dastand, keinen Steinwurf von ihnen entfernt, das Faß auf den Schultern.

Als der letzte weiße Mann wieder im Fort verschwunden war, kicherte Lolla-Wossiky.

»Du lachst mit dem Gift des weißen Mannes auf deiner Schulter«, sagte Ta-Kumsaw.

»Ich lache mit dem Arm meines Bruders auf meinem Rücken«, antwortete Lolla-Wossiky.

»Laß ab von diesem Whisky, Bruder, und komm mit mir«, forderte Ta-Kumsaw ihn auf. »Der Kardinalvogel hat sich meine Geschichte angehört und erinnert sich an mich in seinem Lied.«

»Dann werde ich diesem Lied lauschen und all mein Leben lang froh sein«, sagte Lolla-Wossiky.

»Das Land ist mit mir, Bruder. Ich bin das Gesicht des Landes, das Land ist mein Atem und mein Blut.«

»Dann werde ich deinen Herzschlag im Puls des Windes vernehmen«, sagte Lolla-Wossiky.

»Ich werde den weißen Mann ins Meer zurücktreiben«, verkündete Ta-Kumsaw.

Zur Antwort begann Lolla-Wossiky zu weinen; es war kein trunkenes Weinen, sondern das trockene, schwere Schluchzen eines Mannes, den die Trauer tief drückte. Ta-Kumsaw versuchte, seine Umarmung zu verstärken, doch sein Bruder stieß ihn von sich und taumelte davon, noch immer das Faß auf dem Rücken, hinaus in die Dunkelheit zwischen die Bäume.

Ta-Kumsaw folgte ihm nicht. Er wußte, weshalb sein Bruder trauerte: weil das Land Ta-Kumsaw mit Macht erfüllt hatte, Macht genug, um zwischen betrunkenen Weißen dazustehen und so unsichtbar zu erscheinen wie ein Baum. Und Lolla-Wossiky wußte, daß alle Macht, die Ta-Kumsaw hatte, nur ein Zehntel dessen war, was Lolla-Wossiky selbst eigentlich hätte besitzen müssen. Doch der weiße Mann hatte es Lolla-Wossiky durch Morden und Branntwein gestohlen, bis Lolla-Wossiky nicht mehr fähig war, um den Kardinalvogel dazu zu bewegen, sein Lied zu singen, oder um es zuzulassen, daß das Land sein Herz erfüllte.

Mach dir nichts daraus, mach dir nichts daraus, mach dir nichts daraus.

Das Land hat mich auserwählt, seine Stimme zu sein, daher muß ich anfangen zu sprechen. Ich werde nicht länger hierbleiben, um zu versuchen, die erbärmlichen Trunkenbolde zu beschämen, die durch ihren Durst nach dem Gift des weißen Mannes bereits den Tod gefunden haben. Ich werde die weißen Lügner nicht mehr warnen. Ich werde die Roten aufsuchen, die noch lebendig sind, die noch Männer sind, und werde sie versammeln. Als geeintes Volk werden wir den weißen Mann wieder über das Meer zurückjagen.

3. De Maurepas

Frederic, der junge Comte de Maurepas, und Gilbert, der alternde Marquis de La Fayette, standen zusammen an der Reling der Kanalbarkasse und sahen auf Lake Irrakwa hinaus. Das Segel der Marie-Philippe war inzwischen deutlich zu sehen; stundenlang hatten sie zugesehen, wie es über diesen kleinsten und seichtesten der großen Seen auf sie zufuhr.

Frederic konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal wegen seines Volkes derartig gedemütigt gefühlt hatte. Vielleicht damals, als der Kardinal Soundso versucht hatte, Königin Marie-Antoinette zu bestechen. Aber damals war Frederic natürlich noch ein Junge gewesen, gerade mal fünfundzwanzig Jahre alt, unreif und jung, ohne Lebenserfahrung. Er hatte geglaubt, daß Frankreich unmöglich eine schlimmere Demütigung hätte widerfahren können als das Bekanntwerden der Tatsache, daß ein Kardinal tatsächlich geglaubt hatte, er könne die Königin mit einem Diamantenhalsband bestechen. Inzwischen wußte er natürlich, daß die eigentliche Demütigung darin bestanden hatte, daß ein französischer Kardinal überhaupt so töricht hatte sein können zu glauben, daß es sich lohnen würde, die Königin zu bestechen; sie hätte doch allerhöchstens versuchen können, den König zu beeinflussen, aber da der alte König Louis selbst auf niemanden Einfluß hatte, wäre es auch schon dabei geblieben.

Ein persönliche Demütigung tat schon weh, doch die Demütigung der eigenen Familie war noch viel schlimmer. Die Demütigung der eigenen gesellschaftlichen Stellung aber war eine schier unerträgliche Qual. Die grauenhafteste aller menschlichen Qualen jedoch war es, die eigene Nation gedemütigt zu sehen.

Und nun stand er hier auf einer armseligen Kanalbarkasse, einer amerikanischen Kanalbarkasse, die an der Mündung eines amerikanischen Kanals festgemacht war, und erwartete einen französischen General. Warum war dieser Kanal nicht französisch? Warum waren die Franzosen nicht die ersten gewesen, die diese raffinierten Schleusen erfunden und einen Kanal um die kanadische Seite der Wasserfälle gebaut hatten?

»Nun kocht nicht gleich vor Wut, mein lieber Frederic«, murmelte La Fayette.

»Ich koche nicht, mein lieber Gilbert.«

»Dann eben schnauben. Ihr schnaubt unentwegt.«

»Ich schnüffle. Ich habe eine Erkältung.« Kanada war wirklich der Abfallkübel der französischen Gesellschaft, dachte Frederic zum tausendstenmal. Selbst mit dem Adel, den es hierher verschlug, war es nicht weit her. Dieser Marquis de La Fayette, ein Mitglied des — nein, sogar ein Gründungsmitglied der Clubs der Feuillants, was praktisch besagte, daß er ein deklarierter Verräter gegen König Charles war. Demokratisiertes Geschwätz. Genausogut hätte er gleich ein Jakobiner sein können wie dieser Terrorist Robespierre. Natürlich hatte man La Fayette ins kanadische Exil geschickt, wo er nur wenig Schaden anrichten konnte. Das bedeutete, nur wenig Schaden außer, Frankreich auf diese ungehörige Weise zu demütigen.