Lolla-Wossiky sah zu dem Jungen hinüber, konnte ihn aber nicht genau erkennen. Zwar sah er den blondhaarigen Jungen, mit dem er gerade raufte, aber die Umrisse des anderen wurden einfach nicht deutlich, und er wußte auch nicht warum.
Brustwehr redete immer noch. »Ist das nicht scheußlich? So jung, und schon wird er von Jesus Christus fortgeführt.
Jedenfalls ist es Eleanor wirklich schwergefallen, diese ganze Zauberei aufzugeben. Aber sie hat es getan. Sie hat es mir feierlich versprochen, sonst hätten wir auch nie geheiratet.«
In diesem Augenblick kam Eleanor, die schöne Frau, die die weißen Männer für häßlich hielten, zu ihnen, um den Eßkorb wieder abzuholen. Sie hörte die letzten Sätze ihres Mannes, ließ sich aber nicht anmerken, daß sie ihr etwas bedeuteten. Doch als sie Lolla-Wossikys Schale entgegennahm und ihm in die Augen sah, da hatte er das Gefühl, als würde sie ihn fragen. Hast du diesen Zauber gesehen?
Lolla lächelte sie an, sein gewaltigstes Lächeln, damit sie wußte, daß er nicht vorhatte, ihrem Mann etwas davon zu erzählen.
Sie erwiderte sein Lächeln, zögernd, mißtrauisch. »Hat Euch das Essen geschmeckt?« fragte sie.
»Alles zu verkocht«, meinte Lolla-Wossiky. »Blutgeschmack ganz weg.«
Ihre Augen weiteten sich. Brustwehr lachte nur und schlug Lolla-Wossiky auf die Schulter. »Nun, so ist das eben, wenn man zivilisiert ist. Dann trinkt man kein Blut mehr. Ich hoffe, daß Eure Taufe Euch auf den rechten Weg führt — es ist ganz offensichtlich, daß Ihr schon lange auf dem falschen wart.«
»Ich habe mich schon gefragt…«, sagte Eleanor — und dann hielt sie inne, sah zuerst auf Lolla-Wossikys Lendenschurz und blickte dann ihren Mann an.
»Ach ja, darüber haben wir gestern abend noch gesprochen. Ich habe ein paar alte Hosen und ein Hemd, das ich nicht mehr anziehe, und Eleanor macht mir sowieso neue Kleider, da dachte ich mir, daß Ihr nun, da Ihr ja getauft seid, Euch wirklich endlich mal wie ein Christ kleiden solltet.«
»Sehr heißer Tag«, meinte Lolla-Wossiky.
»Ja, nun, Christen halten eben etwas von züchtiger Bekleidung, Lolla-Wossiky.« Brustwehr lachte und schlug ihm erneut auf die Schulter.
»Ich kann die Kleider heute nachmittag herbringen«, sagte Eleanor.
Lolla-Wossiky hielt das für einen sehr dummen Gedanken. Rote Männer sahen immer lächerlich aus, wenn sie in der Kleidung der Weißen steckten. Aber er wollte nicht widersprechen, weil sie versuchten, sehr freundlich zu ihm zu sein. Und vielleicht würde die Taufe ja doch noch funktionieren, wenn er die Kleider des weißen Mannes anzog. Vielleicht würde dann das schwarze Geräusch verschwinden.
Also antwortete er nicht. Statt dessen sah er zu der Stelle hinüber, wo der blonde Junge in Kreisen umherlief und dabei rief: »Alvin! Ally!« Lolla-Wossiky bemühte sich sehr, den Jungen zu erkennen, den der andere verfolgte. Er sah einen Fuß, der den Boden berührte und Staub aufwirbelte, eine Hand, die durch die Luft fuhr, doch den Jungen selbst erblickte er nie so richtig. Sehr seltsam.
Eleanor wartete auf seine Antwort. Lolla-Wossiky sagte nichts, da er gerade den Jungen beobachtete, der gar nicht da war. Schließlich lachte Brustwehr-Gottes laut auf und sagte: »Bring uns ruhig die Kleider, Eleanor. Wir werden ihn schon wie einen Christen anziehen, und vielleicht kann er uns morgen beim Kirchenbau helfen, kann damit beginnen, ein christliches Handwerk zu erlernen. Dann geben wir ihm mal eine Säge in die Hand.«
Lolla-Wossiky hörte den letzten Satz nicht, sonst wäre er vielleicht sofort in den Wäldern verschwunden. Er hatte gesehen, was mit den roten Männern geschah, die damit begannen, die Werkzeuge des Weißen zu benutzen. Wie es ihre Verbindung zum Land abschnitt, Stück um Stück, jedesmal, wenn sie dieses Metall aufnahmen. Sogar Gewehre. Wenn ein roter Mann damit begann, mit Gewehren zu jagen, dann war er schon ein halber Weißer geworden, sobald er das erste Mal den Abzug betätigte; das einzige, wofür ein roter Mann ein Gewehr benutzen konnte, war, um weiße Männer zu töten, pflegte Ta-Kumsaw immer zu sagen, und er hatte recht. Doch Lolla-Wossiky hörte Brustwehr gar nicht, weil er soeben eine höchst bemerkenswerte Entdeckung gemacht hatte. Wenn er sein gesundes Auge schloß, konnte er den Jungen nämlich sehen. Genau wie den einäugigen Bären im Fluß. Öffnete er das heile Auge wieder, sah er nur den blonden Jungen, der hinter dem anderen herjagte und schrie, aber keinen Alvin Miller Junior. Wenn er es schloß, war da nichts als das schwarze Geräusch und die Spuren des Grün — und dann, direkt in der Mitte, war da der Junge, hell und leuchtend von einem Licht, als trüge er eine Sonne in seiner Gesäßtasche, lachend und spielend, mit einer Stimme, die wie Musik klang.
Und dann sah er ihn überhaupt nicht mehr.
Lolla-Wossiky öffnete das Auge. Da stand Reverend Thrower. Brustwehr und Eleanor waren fort — alle Männer hatten sich wieder an den Kirchenbau gemacht. Soviel war klar — es war Thrower, der den Jungen hatte verschwinden lassen. Vielleicht aber auch nicht, denn nun, da Thrower neben ihm stand, konnte Lolla-Wossiky den Jungen mit seinem gesunden Auge sehen. Genau wie jedes andere Kind.
»Lolla-Wossiky, mir ist eingefallen, daß Ihr wirklich einen christlichen Namen annehmen solltet. Ich habe noch nie einen roten Mann getauft, daher habe ich ohne nachzudenken Euren unzivilisierten Namen benutzt. Ihr solltet einen neuen Namen annehmen, einen christlichen Namen. Nicht unbedingt den Namen eines Heiligen — wir sind schließlich keine Papisten —, aber einen, der Eure Verpflichtung gegenüber Christus dokumentiert.«
Lolla-Wossiky nickte. Er wußte, daß er einen neuen Namen brauchen würde, wenn die Taufe überhaupt wirksam werden sollte. Wenn er erst seinem Traumtier begegnet und nach Hause zurückgekehrt war, würde er einen neuen Namen bekommen. Das versuchte er Thrower zu erklären, doch der weiße Prediger verstand ihn nicht richtig. Doch endlich begriff er, daß Lolla-Wossiky einen neuen Namen haben wollte, und zwar möglichst bald, was ihn wieder besänftigte.
»Da wir schon gerade hier sind«, warf Thrower ein, »würde ich ganz gern einmal Euren Kopf untersuchen. Ich arbeite nämlich daran, ein paar Grundklassifikationen der noch jungen Wissenschaft der Phrenologie zu entwickeln. Dahinter steht die Annahme, daß bestimmte Talente und Eigenschaften der menschlichen Seele sich in Höckern und Mulden des menschlichen Schädels widerspiegeln oder von diesen vielleicht sogar verursacht werden.«
Lolla-Wossiky hatte nicht die geringste Vorstellung, wovon Thrower da sprach, daher nickte er nur stumm. Das funktionierte normalerweise gut bei Weißen, die Unfug redeten, und Thrower war keine Ausnahme. Und so endete es damit, daß Thrower Lolla-Wossikys Kopf überall befühlte, gelegentlich aufhörte, um auf einem Stück Papier Notizen und Skizzen zu machen, und Dinge murmelte wie: »Interessant«, »ha« und »Na, diese Theorie hätten wir widerlegt.« Als alles vorbei war, bedankte sich Thrower bei ihm. »Ihr habt der Wissenschaft einen großen Dienst erwiesen, Mr. Wossiky. Ihr seid ein lebender Beweis dafür, daß der rote Mann nicht unbedingt die Höcker der Wildheit und des Kannibalismus aufweisen muß. Statt dessen besitzt Ihr eine ganz normale Reihe von Fähigkeiten und Mängeln, wie sie jeder Mensch hat. Rote Männer sind nicht grundlegend verschieden von weißen Männern, zumindest nicht auf irgendeine leicht kategorisierbare Weise. Tatsächlich weist Ihr alle Anzeichen eines bemerkenswerten Redners auf, mit einem hochentwickelten Sinn für Religion. Es ist kein Zufall, daß Ihr der erste rote Mann seid, der in meiner Pfarrei hier in Amerika das Evangelium annimmt. Ich muß sagen, daß Euer phrenologisches Muster große Ähnlichkeit mit meinem eigenen aufweist. Kurzum, mein lieber, neugetaufter Christ, es würde mich nicht überraschen, wenn Ihr einmal selbst zu einem Missionar des Evangeliums werden würdet. Wenn Ihr zu großen Scharen roter Männer und Frauen sprecht und ihnen das Verständnis des Himmels nahebrächtet. Denkt einmal über diese Vision nach, Mr. Wossiky. Wenn ich mich nicht irre, dürfte das Eure Zukunft sein.«