»Der hat einen Schutzengel, das ist es«, meinte ein anderer.
Alvin Junior. Der Junge, den er nicht mit offenem Auge sehen konnte.
Als Lolla-Wossiky zur Kirche kam, war niemand mehr da. Auch der Dachbalken war verschwunden, man hatte alle Spuren des Unfalls beseitigt. Doch Lolla-Wossiky sah auch nicht mit seinem gesunden Auge hin. Er konnte es spüren, als er in die Nähe der Kirche gekommen war. Ein Strudel, der an den Rändern zwar nicht sehr schnell war, dafür aber immer stärker und stärker wurde, je näher er ihm kam. Ein Wirbelwind aus Licht, und je mehr er sich ihm näherte, um so schwächer wurde das schwarze Geräusch. Bis er schließlich auf dem Boden der Kirche stand, an der Stelle, von der er wußte, daß hier der Junge gestanden hatte. Woher wußte er das? Das schwarze Geräusch war leiser geworden. Nicht verschwunden, der Schmerz war nicht geheilt, aber Lolla-Wossiky konnte das grüne Land wieder spüren, nur ein wenig, nicht so wie früher, aber konnte die Kleinlebewesen unter dem Boden spüren, ein Eichhörnchen, nicht weit entfernt auf der Weide, Dinge, die er in all den Jahren, seit das Gewehr ihm das schwarze Geräusch in den Kopf getrieben hatte, weder in nüchternem noch im betrunkenen Zustand hatte wahrnehmen können.
Lolla-Wossiky drehte und drehte sich um die eigene Achse, ohne etwas anderes zu sehen als die Wände der Kirche. Bis er das Auge schloß. Dann erblickte er den Wirbelwind; ja, weißes Licht, das sich immer und immer wieder um ihn drehte, während das schwarze Geräusch zurückwich. Nun war er am Ende seines eigenen Traums angelangt. Und er konnte mit geschlossenem Auge sehen, konnte deutlich sehen. Vor ihm lag ein leuchtender Pfad, ein Weg, so hell wie der Mittagshimmel, blendend wie Weidenschnee an einem klaren Tag. Ohne das Auge zu öffnen, wußte er bereits, wohin der Weg fuhren würde. Den Hügel hinauf, auf der anderen Seite hinunter, einen noch höheren Berg empor, einem Haus unweit eines Stromes entgegen, einem Haus, wo ein weißer Junge lebte, der für Lolla-Wossiky nur sichtbar war, wenn er sein Auge geschlossen hielt.
Nun, da das schwarze Geräusch ein wenig zurückgewichen war, konnte er sich wieder lautlos bewegen. Er ging um das Haus herum, immer und immer wieder. Niemand hörte ihn. Im Inneren des Hauses: Gelächter, Rufe, Geschrei. Glückliche Kinder, zankende Kinder. Strenge Elternstimmen. Bis auf die andere Sprache hätte es sein eigenes Dorf sein können. Seine eigenen Schwestern und Brüder in jenen glücklichen Tagen, bevor der weiße Mörder Harrison seinen Vater getötet hatte.
Der weiße Vater, Alvin Miller, trat hinaus, um zum Abort zu gehen. Kurz danach kam der Junge selbst, lief, als würde er sich fürchten. Er schrie auf die Tür des Aborts ein. Mit offenem Auge sah Lolla-Wossiky nur, daß dort irgend jemand stand und schrie. Mit geschlossenem Auge jedoch erblickte er den Jungen, und vernahm seine Stimme wie Vogelgesang über einem Fluß, alles Musik, auch wenn das, was er sagte, albern war, töricht, eben das Gerede eines Kindes.
»Wenn du nicht sofort rauskommst, dann mache ich hier vor die Tür, dann trittst du hinein, wenn du rauskommst!«
Und dann Schweigen, während der Junge immer unruhiger wurde, sich mit der Faust plötzlich gegen den Kopf schlug, als wollte er sagen: Dumm, dumm, dumm. Irgend etwas veränderte sich in Al Juniors Miene; Lolla-Wossiky öffnete das Auge und sah, daß der Vater herausgekommen war und etwas sagte.
Der Junge antwortete ihm beschämt. Der Vater berichtigte ihn. Lolla-Wossiky schloß das Auge.
»Jawohl, Herr Papa.«
Wieder mußte der Vater etwas sagen, doch mit geschlossenem Auge konnte Lolla-Wossiky ihn nicht hören.
»Tut mir leid, Papa.«
Dann mußte der Vater fortgegangen sein, denn nun betrat der kleine Alvin das Örtchen. Brummend, doch so leise, daß keiner ihn hören konnte. Außer Lolla-Wossiky. »Na ja, wenn du einfach noch ein zweites Örtchen bauen würdest, hätte ich keine Schwierigkeiten.«
Lolla-Wossiky lachte. Törichter Junge, törichter Vater, wie alle Jungen, wie alle Väter.
Und wieder sah er das weiße Licht sich sammeln, im Inneren des Hauses, dem Jungen die Treppe hinauffolgend. Für Lolla-Wossiky gab es keine Wände und Mauern. Er sah, daß der Junge sich sehr vorsichtig verhielt, als hielte er Ausschau nach irgendeinem Feind, als rechnete er mit einem Angriff. Als er ins Schlafzimmer kam, huschte er hinein, schloß schnell die Tür hinter sich. Lolla-Wossiky sah ihn so deutlich, daß er beinahe meinte, seine Gedanken zu hören; und dann, weil er es dachte und weil beinahe schon die Zeit seines Erwachens war, hörte er die Gedanken des Jungen tatsächlich, oder zumindest spürte er seine Gefühle. Er fürchtete sich vor seinen Schwestern. Ein törichter Streit, der mit Neckereien angefangen hatte, aber inzwischen bösartig geworden war — er fürchtete sich vor ihrer Rache.
Und die Rache kam, als er seine Kleidung auszog und sich das Nachthemd über den Kopf streifte. Stechen! Insekten, dachte der Junge. Spinnen, Skorpione, winzige Schlangen! Er riß das Nachthemd ab, schlug auf seine eigene Haut ein, schrie auf vor Schmerz und Furcht.
Doch Lolla-Wossiky spürte das Land gut genug, um zu wissen, daß es dort keine Insekten gab. Nicht an seinem Körper, nicht im Nachthemd. Obwohl es viele Lebewesen im Zimmer gab. Küchenschaben, die zu Hunderten in den Wänden und unter dem Boden lebten.
Doch nicht in allen Wänden und Böden. Nur in Alvin Juniors Raum. Alle versammelten sich dort.
Aus Feindschaft? Doch Küchenschaben waren zu klein für den Haß. Diese kleinen Kreaturen kannten nur drei Gefühle: Angst, Hunger und das dritte Gespür, das Landgespür. Das Vertrauen darin, wie die Dinge zu sein hatten. Fütterte der Junge sie etwa? Nein, sie kamen aus einem anderen Grund zu ihm. Lolla-Wossiky konnte es kaum glauben, doch er spürte es in den Küchenschaben und konnte nicht daran zweifeln. Der Junge hatte sie irgendwie gerufen. Der Junge besaß das Landgespür, zumindest genug davon, um diese kleinen Kreaturen zu rufen.
Doch wozu? Wer wollte schon Küchenschaben bei sich haben? Aber er war ja nur ein Junge. Es mußte keinen Sinn ergeben. Einfach nur die Entdeckung, daß das kleine Leben kam, wenn man es rief. Rote Jungen lernten dies, doch stets von ihrem Vater und stets auf ihrer ersten Jagd. Niederknien und stumm zu dem Leben sprechen, das man nehmen mußte, und es fragen, ob dies eine gute Zeit sei und ob es bereit sei, zu sterben, um dein Leben stärker zu machen. Ist es Zeit für dich zu sterben? fragte der rote Junge. Und wenn das Leben einwilligte, kam es auch zu ihnen.
Das hatte der Junge getan. Nur daß es nicht so einfach gewesen war. Er hatte die Küchenschaben nicht gerufen, damit sie zur Erfüllung seiner Bedürfnisse starben, denn er besaß keine Bedürfnisse. Nein, er hatte sie gerufen und in Sicherheit gehalten. Er beschützte sie und hatte mit ihnen eine Abmachung getroffen. Es gab bestimmte Stellen, von denen die Schaben sich fernhielten. Von Alvins Bett. Von der Wiege seines kleinen Bruders Calvin. Von Alvins Kleidung, die zusammengefaltet auf dem Schemel lag. Und als Gegenleistung tötete Alvin sie nie. In seinem Zimmer waren sie sicher. Es war ein Zufluchtsort, ein Unterschlupf. Eine sehr törichte Sache; ein Kind, das mit Dingen spielte, die es nicht verstand.
Erstaunlich aber war, daß es sich um einen weißen Jungen handelte, der etwas tat, was nicht einmal ein Roter vermochte. Wann sagte der rote Mann jemals zum Bären: Komm und wohne bei mir, und ich werde dich beschützen? Wann glaubte der Bär so etwas jemals? Kein Wunder, daß das Licht sich um diesen Jungen bündelte! Das war etwas anderes als die törichten Zauber des weißen Mannes Hooch. Dies war auch nicht die Fähigkeit des roten Mannes, sich ins Gefüge des Landes einzupassen. Nein, Alvin paßte sich an nichts an. Vielmehr paßte sich das Land an ihn an. Wenn er wollte, daß die Schaben auf bestimmte Weise lebten, wenn er einen Handel mit ihnen abschließen wollte, dann ordnete sich das Land eben entsprechend. An diesem kleinen Ort hatte Alvin Junior über diese Zeit und über diese winzigen Wesen befohlen, und das Land hatte gehorcht.