Sofort verschwand der Junge, und Lolla-Wossiky wußte, daß der Junge nun glauben würde, daß Lolla-Wossiky selbst auch verschwunden war. Was nun? dachte er. Bin ich etwa hier, um diesen Jungen in den Wahnsinn zu treiben? Um ihm einen Schrecken einzujagen, der so schlimm ist, wie es das schwarze Geräusch für mich war?
Wieder schickte er dem Jungen Licht. Ruhe, Ruhe.
Das Weinen des Jungen wurde zu einem Wimmern, und er blickte erneut Lolla-Wossiky an, der noch immer von blendendem Licht strahlte.
Lolla-Wossiky wußte nicht, was er tun sollte. Während er schwieg und verunsichert war, fing Alvin an zu sprechen, zu flehen. »Es tut mir leid, ich werde es nie wieder tun. Ich…«
Er plapperte weiter und weiter. Lolla-Wossiky schickte ihm noch mehr Licht, um ihm beim Sehen zu helfen. Es erreichte den Jungen fast wie eine Frage. Was wirst du nie wieder tun?
Alvin konnte es nicht beantworten, er wußte es nicht. Was hatte er eigentlich getan? War es, daß er die Schaben in den Tod geschickt hatte?
Er blickte den leuchtenden Mann an und schaute das Bild eines roten Mannes, der vor einem Reh kniete, es herbeirief, um zu sterben; das Reh näherte sich, zitternd und mit geweiteten Augen, furchtsam; der Rote ließ einen Pfeil hervorschnellen, und im nächsten Moment traf er auch schon die Flanke des Rehs. Die Beine des Tieres bebten. Es war nicht das Sterben oder das Töten, das Alvins Sünde ausmachte, denn Sterben und Töten gehörten zum Leben.
War es die Macht, die er hatte? Die Fähigkeiten, die er besaß, dafür zu sorgen, daß die Dinge genau dort hingingen, wo er sie hinhaben wollte, daß sie genau an der richtigen Stelle zerbrachen oder sich so fest zusammenfügten, daß sie auf alle Zeiten zusammenblieben, ohne Leim oder Nagel? Die Fertigkeit, die er besaß, die Dinge sich so anordnen zu lassen, wie es sich gehörte? War es das?
Wieder schaute er zum leuchtenden Mann hinüber, und wieder hatte er eine Vision. Diesmal sah er sich selbst, wie er gegen einen Stein drückte, der wie Butter unter seinen Händen zerschmolz und genau die Form annahm, die er haben wollte, glatt und rund, eine vollkommene Kugel, die immer größer und größer wurde, bis sie zu einer ganzen Welt geworden war, mit Bäumen und Tieren, die rannten und sprangen, flogen und schwammen, krabbelten und gruben. Nein, er verfügte über keine schreckliche Macht, es war vielmehr eine wunderbare Macht wenn er nur lernte, sie zu nutzen.
Nun, wenn es nicht das Sterben und seine Macht waren, was habe ich denn dann falsch gemacht?
Diesmal zeigte ihm der leuchtende Mann überhaupt nichts. Diesmal mußte er selbst nachdenken. Und da erkannte er es plötzlich.
Verwerflich war, daß alles nur ihm selbst gedient hatte. Er hatte den Schaben weh getan, den Schwestern, jedermann, hatte alle leiden lassen, und wozu? Damit Alvin Miller Junior wütend sein und sich rächen konnte…
Als er den leuchtenden Mann nun anschaute, sah er, wie ein Feuer aus seinem blitzenden Auge hervorsprang und ihn ins Herz traf. »Ich werde es niemals mehr für mich selbst anwenden«, murmelte Alvin Junior, und als er diese Worte aussprach, hatte er das Gefühl, als würde sein Herz brennen, so heiß war es darin. Und dann verschwand der leuchtende Mann wieder.
Keuchend stand Lolla-Wossiky da, ihm schwindelte. Er fühlte sich schwach, matt. Er hatte keine Ahnung, was der Junge denken mochte. Er wußte nur, welche Visionen er ihm schicken mußte, und dann, am Ende, hatte er überhaupt keine Vision mehr, da mußte er einfach nur dastehen, bis er dem Jungen plötzlich einen starken Feuerimpuls schickte und ihn in sein Herz bohrte.
Und nun? Zweimal hatte er sein Auge geschlossen und war dem Jungen erschienen. War er fertig? Nein, er wußte, daß er es nicht war.
Zum dritten Mal schloß Lolla-Wossiky das Auge. Nun konnte er erkennen, daß der Junge sehr viel heller strahlte als er selbst. Daß das Licht von ihm in den Jungen übergeströmt war. Ja, daß der Junge aber auch sein Traumtier war. Nun war es Zeit für ihn, aus seinem Traumleben zu erwachen.
Er machte drei Schritte vor und kniete neben dem Bett nieder, sein Gesicht war nur ein kleines Stück von dem kleinen, verängstigten Gesicht des Jungen entfernt, das nun so hell strahlte, daß Lolla-Wossiky kaum bemerkte, daß ihn nur ein Kind und nicht etwa ein erwachsener Mann ansah. Was will ich von ihm? Warum bin ich hier? Was kann er mir geben, dieser mächtige Junge?
»Mach alle Dinge ganz«, flüsterte Lolla-Wossiky. Er sagte es nicht auf Englisch, sondern in Shaw-Nee.
Verstand das Kind ihn? Alvin hob die kleine Hand, streckte sie sanft vor und berührte Lolla-Wossikys Wange unterhalb des gebrochenen Auges. Dann hob er den Finger, bis er das schlaffe Augenlid berührte.
Die Luft knisterte. Lichtfunken. Der Junge stöhnte auf und riß die Hand zurück. Lolla-Wossiky sah ihn jedoch nicht, denn plötzlich war der Junge unsichtbar geworden. Aber Lolla-Wossiky scherte sich nicht um das, was er sah, denn was er fühlte, war das Allerunmöglichste:
Stille. Grüne Stille. Das schwarze Geräusch war ganz und gar verschwunden. Sein Landgespür war zurückgekehrt, und die uralte Wunde war geheilt.
Lolla-Wossiky kniete am Boden, als das Land so zu ihm zurückkehrte, wie es früher gewesen war. So viele Jahre waren vergangen; er hatte vergessen, wie stark es war, wie man in alle Richtungen gleichzeitig blicken konnte, wie man den Atem eines jeden Tieres hören, den Duft einer jeden Pflanze riechen konnte. Es war genau das, wonach er sich gesehnt hatte, doch viel zu kräftig, viel zu plötzlich, er konnte es nicht beherrschen, konnte es nicht ertragen…
»Es hat nicht geklappt«, flüsterte der Junge. »Es tut mir leid.«
Lolla-Wossiky öffnete sein gesundes Auge, und nun sah er den Jungen zum ersten Mal als einen natürlichen Menschen. Alvin starrte sein fehlendes Auge an. Lolla-Wossiky fragte sich warum; er berührte es. Noch immer hing das Augenlid über die leere Höhle. Da begriff er. Der Junge hatte geglaubt, daß er das Auge hatte heilen sollen. Nein, sei nicht enttäuscht, Kind, du hast mich von der wirklich tiefen Verletzung geheilt, was kümmert mich da diese winzige Wunde? Ich habe mein Augenlicht nie verloren; verloren hatte ich mein Landgespür, und das hast du mir zurückgegeben.
All dies wollte er dem Jungen zurufen, er wollte vor Freude laut jubilieren und singen. Doch alles war zuviel für ihn. Die Worte erreichten nie seine Lippen. Nicht einmal Visionen konnte er ihm noch schicken, denn nun waren sie beide erwacht. Der Traum war zu Ende. Jeder war das Traumtier des anderen gewesen.
Lolla-Wossiky ergriff den Jungen mit beiden Händen, drückte ihn eng an sich, küßte ihn auf die Stirn, hart und fest, wie ein Vater seinen Sohn, oder wie wahre Freunde vor dem Tag, an dem sie sterben werden. Dann lief er zum Fenster, schwang sich über die Fensterbank und verschwand. Die Erde gab seinen Füßen nach, wie sei es bei den anderen roten Männern tat, wie sie es für ihn schon so viele Jahre lang nicht mehr getan hatte; das Gras erhob sich kräftiger, wo er hintrat; die Sträucher teilten sich für ihn, die Blätter wurden weicher und nachgiebiger, als er zwischen den Bäumen dahinlief; und nun endlich begann er wirklich zu jubilieren, schrie er, sang er, war es ihm gleichgültig, wer ihn hörte. Die Tiere liefen nicht mehr vor ihm davon, wie sie es getan hatten; nun kamen sie herbei, um sein Lied zu vernehmen; Vögel erwachten, um mit ihm zusammen zu singen; ein Reh sprang aus dem Wald herbei und lief neben ihm über die Weide, und er ließ dabei die Hand auf seiner Flanke ruhen.
Er lief, bis ihm das Atmen schwer wurde, und die ganze Zeit traf er auf keinen Feind, spürte er keinen Schmerz. Er war wieder ganz geworden, so, wie es wichtig war. Am Ufer des Wobbish River blieb er stehen, gegenüber der Mündung des Tippy-Canoe, er keuchte und lachte.