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Als Antwort auf Beccas Läuten trat jemand in den Raum, dem Klang seiner Stimme nach ein älterer Mann; sie schickte ihn aus, um etwas zu essen zu holen, doch Alvin bemerkte nicht einmal, wie er aussah, denn er konnte die Augen nicht von dem Stoff abwenden. Wozu diente soviel Stoff?

Und wo endete er?

Er schritt zu einer Stelle hinüber, an der etwa ein Dutzend Stoffrollen in einer Ecke standen, und er merkte, daß jede der Rollen aus der davorstehenden hervorwuchs. Irgend jemand hatte das Ende des Stoffs von einer Rolle genommen und zusammengerollt, um damit die nächste anzufangen, es waren also gar nicht verschiedene Stoffe, alles war nur ein einziges Tuch, so lange aufgerollt, bis es fast zu schwer war, um es noch bewegen zu können, und dann hatte man sofort mit der nächsten Rolle begonnen, ohne daß auch nur eine Schere den Stoff berührt hätte. Alvin begann im Zimmer umherzuschlendern, mit den Fingern zog er das Stoffmuster nach, folgte seinem Pfad hinauf über die Haken an den Wänden, hinunter zu den Falten am Boden, wo der Stoff zusammengelegt worden war. Er folgte ihm, er folgte ihm immer weiter, bis schließlich der alte Mann mit dem Brot und dem Käse wiederkehrte und er das Ende des Stoffes gefunden hatte. Der Stoff mündete in Beccas Webstuhl.

Die ganze Zeit hatte Ta-Kumsaw mit Becca in seiner Isaac-Stimme gesprochen, und sie hatte auf ihre tiefmelodische Weise geantwortet, die irgendwie ein wenig fremdländisch klang, wie bei einigen der Holländer in der Gegend um Vigor Church. Erst jetzt, da Alvin neben dem Webstuhl stand und das Essen auf einem niedrigen Tisch stand, der von drei Stühlen umgeben war, erst jetzt achtete er auf das, was sie sagten, und auch das nur, weil er Becca so gerne danach gefragt hätte, wofür dieser ganze Stoff dem gut sei; schließlich mußte sie über ein Jahr daran gesponnen haben, damit er so lang werden konnte, ohne einmal die Schere angesetzt zu haben. Das war etwas, was Ma stets eine schändliche Vergeudung zu nennen pflegte: etwas zu besitzen und es nicht zu nutzen.

»Iß«, sagte Ta-Kumsaw. Und als er so barsch zu Alvin sprach, wurde er wieder der richtige Ta-Kumsaw. Es beruhigte Alvin, zu wissen, daß hier keine Hexerei am Werk war, daß Ta-Kumsaw nur auf zwei verschiedene Weisen sprechen konnte; andererseits aber weckte es in ihm auch weitere Fragen, etwa die, wie Ta-Kumsaw jemals eine solche Sprache hatte lernen können. Alvin hatte nicht einmal gerüchteweise davon gehört, daß Ta-Kumsaw weiße Freunde in Appalachee hatte, und doch hätte sich so etwas eigentlich herumsprechen müssen. Andererseits fiel es nicht schwer zu erraten, weshalb Ta-Kumsaw dies nicht unbedingt an die große Glocke hängen wollte. Was würden all diese aufgestachelten Roten wohl denken, wenn sie Ta-Kumsaw jetzt sehen könnten? Und was für Folgen hätte das für Ta-Kumsaws Krieg?

Und überhaupt: Wie konnte Ta-Kumsaw nur einen solchen Krieg führen, wenn er doch wirkliche weiße Freunde wie die Menschen in diesem Tal hatte? Das Land hier war ohne Zweifel tot, jedenfalls das Land, wie die Roten es kannten. Wie konnte Ta-Kumsaw es nur ertragen?

Die Mahlzeit wurde begleitet von Beccas freundlichem Geplapper über die Ereignisse im Tal, wobei sie Namen erwähnte, die Alvin nichts bedeuteten, nur daß hinter jedem davon auch jemand zu Hause in Vigor Church hätte stehen können — es gab sogar Leute hier, die Miller hießen, was auch nur zu erwarten war, da ein Tal von dieser Größe sicherlich mehr Getreide hervorbrachte, als ein einziger Müller hätte mahlen können.

»Hast du meinen Stoff gesehen?« fragte Becca.

Ta-Kumsaw nickte. »Darum bin ich gekommen.« Becca lächelte und führte ihn zum Webstuhl. Dort nahm sie Platz und legte das frischeste Tuch in ihren Schoß. Sie begann etwa drei Ellen von der Mündung des Webstuhls entfernt.

»Hier«, sagte sie. »Die Versammlung deines Volkes in Prophetstown.«

Alvin sah, wie sie mit der Hand über ein ganzes Bündel von Fäden fuhr, die aus ihrer richtigen Bahn zu laufen schienen, um sich oben am Rand zu sammeln.

»Rote aller Stämme«, sagte sie. »Die Stärksten deines Volks.«

Obwohl die Fasern einen grünlichen Ton besaßen, waren sie tatsächlich schwerer als die meisten Fäden. Becca gab etwas Stoff aus ihrem Schoß nach. Die Versammlung der Fäden wurde immer stärker und deutlicher, und die Fäden selbst wurden zu einem noch helleren Grün. Wie konnten sie nur so die Farbe verändern? Und wie konnte sich ihr Lauf angesichts des mechanischen Webstuhls nur so verändern?

»Und nun die Weißen, die sich gegen sie zusammengeschart haben«, fuhr sie fort.

Ta-Kumsaw streckte die Hand vor und zog den Stoff näher heran. Er zog so lange, bis er eine Stelle freigegeben hatte, an der all diese reinen grünen Fäden plötzlich schlaff wurden und endeten, jedenfalls die meisten. Hier wurde das Gewebe fadenscheinig und dünn, es war etwa nur noch jeder zehnte Faden übrig, wie bei einem abgenutzten Ellenbogen eines alten Hemds.

Wenn die grünen Fäden für Prophetstown standen, dann gab es kein Zweifel daran, was es bedeutete. »Tippy-Canoe«, murmelte Alvin. Nun wußte er, worum es bei diesem Stoff ging.

Becca beugte sich über den Stoff, und ihre Tränen fielen darauf.

Ta-Kumsaw zog gleichmäßig weiter an dem Stoff, doch ohne zu weinen. Alvin sah, wie der Rest der grünen Fäden, die wenigen, die nach dem Massaker am Tippy-Canoe übriggeblieben waren, sich an den Rand des Stoffs zogen und dort endeten. An dieser Stelle war der Stoff um so viele Fäden schmaler. Nur daß hier eine weitere Versammlung stattfand, doch diese Fäden waren nicht grün. Sie waren überwiegend schwarz.

»Schwarz vor Haß«, sagte Becca. »Du versammelst dein Volk mit Haß.«

»Kannst du dir einen Krieg vorstellen, der mit Liebe geführt wird?« fragte Ta-Kumsaw.

»Das wäre ein Grund, überhaupt jeden Krieg zu verweigern«, sagte sie sanft.

»Sprich nicht wie eine weiße Frau«, versetzte Ta-Kumsaw.

»Aber sie ist doch eine«, warf Alvin ein.

Beide sahen sie Alvin an. Ta-Kumsaw ungerührt, Becca mit — Belustigung? Mitleid? Dann wandten sie sich wieder dem Stoff zu.

Sehr schnell gelangten sie an die Stelle, wo der Stoff über dem Balken hing und im Webstuhl mündete. Auf dem Weg dorthin scharten sich die schwarzen Fäden von Ta-Kumsaws Armee immer enger zusammen, verknoteten sich, wurden miteinander verwoben. Und andere Fäden, manche blau, manche gelb, einige schwarz, versammelten sich an der anderen Stelle, wodurch der Stoff stark aufgebauscht wirkte. Hier war er zwar dicker, doch schien es Alvin nicht so, als wäre er auch nur um eine Spur stärker. Eher sogar schwächer.

»Dieser Stoff wird nicht sehr viel wert sein, wenn das so weitergeht«, meinte Alvin.

Becca lächelte grimmig. »Noch nie hat jemand etwas Wahreres gesagt, Junge.«

»Wenn das die Geschichte eines einzigen Jahres ist«, sagte Alvin, »dann müßt Ihr hier an die zweihundert Jahre versammelt haben.«

Becca legte den Kopf schräg. »Noch mehr«, sagte sie.

»Wie stellt Ihr fest, was alles geschieht, um es in den Stoff einzuspinnen?«

»Ach, Alvin, es gibt eben Dinge, die manche Menschen einfach tun, ohne zu wissen, wie«, erwiderte sie.

»Und wenn Ihr die Fäden verändert, könntet Ihr dann auch die Geschehnisse verändern?« Alvin dachte an eine vorsichtige Umordnung, bei der man die Fäden gleichmäßiger verteilen und diese schwarzen Fäden weiter von einander abhalten könnte.

»So funktioniert das nicht«, sagte sie. »Mit dem, was ich hier tue, bewirke ich nichts. Die Dinge, die geschehen, verändern mich. Mach dir deswegen keine Sorgen, Alvin.«

»Aber vor zweihundert Jahren gab es in diesem Teil Amerikas doch noch gar keine Weißen. Wie kann dieser Stoff dann noch weiter zurückführen?«

Sie seufzte. »Isaac, warum hast du ihn mitgebracht? Damit er mich mit Fragen plagt?«

Ta-Kumsaw lächelte sie an.

»Junge, wirst du es auch niemandem erzählen?« fragte sie. »Wirst du das Geheimnis wahren, wer ich bin und was ich tue?«