Doch es waren nicht nur die Roten, die sich an Ta-Kumsaw erinnerten. Noch während sie ihre Musketen auf seine schattenhafte Gestalt im Wald abfeuerten, bewunderten die amerikanischen Soldaten ihn. Er war ihnen ein großer Held aus alter Zeit. Im Grunde ihres Herzens waren die Amerikaner alle Bauern und Ladenbesitzer. Ta-Kumsaw verkörperte für sie Figuren wie Achilles oder Odysseus, Cäsar oder Hannibal, David oder die Makkabäer. »Er kann nicht sterben«, murmelten sie, als sie mitansahen, wie er ihren Kugeln trotzte. Und als er schließlich doch fiel, da suchten sie nach seinem Leichnam und fanden ihn nicht. »Die Shaw-nee haben ihn mitgeschleppt«, entschied Old Hickory, und dabei ließ man es bewenden. Er ließ sie nicht einmal nach dem Renegado-Jungen suchen, weil er davon ausging, daß ein solcher weißer Verräter sicherlich ebenso untreu sein würde wie die Franzosen und sich während des Kampfs davonstehlen würde. Laßt es, sagte Old Hickory, und wer wollte dem alten Mann schon widersprechen? Hatte er nicht den Sieg für sie errungen? Hatte er nicht den Widerstand der Roten ein für alle Male gebrochen? Old Hickory, Andy Jackson — sie wollten ihn am liebsten zum König machen, doch sie würden sich eines Tages mit dem Präsidentenamt begnügen müssen. Bis dahin aber konnten sie Ta-Kumsaw nicht vergessen, und so breiteten sich Gerüchte aus, daß er irgendwo doch noch am Leben sei, von seinen Wunden verkrüppelt, daß er darauf warte, wieder gesund zu werden und eine große rote Invasion von jenseits des Mizzipy anzuführen, aus den Sümpfen des Südens oder aus irgendeiner geheimen, verborgenen Festung in den Appalachees.
Während der ganzen Schlacht arbeitete Alvin mit aller Kraft daran, Ta-Kumsaw am Leben zu erhalten. Mit jeder neuen Kugel, die das Fleisch durchbohrte, heilte Alvin zerfetzte Adern, versuchte er, Ta-Kumsaws Blut in seinem Körper zu behalten. Für den Schmerz hatte er keine Zeit, doch Ta-Kumsaw schienen die schrecklichen Wunden nichts auszumachen. Alvin kauerte in seinem Versteck zwischen einem stehenden und einem umgestürzten Baum und beobachtete Ta-Kumsaw nur mit dem inneren Auge. Er war so sehr darauf konzentriert, daß er nicht einmal den stechenden Schmerz der Kugel spürte, die in den Rücken seiner linken Hand einschlug.
Doch am Rande seines inneren Gesichtsfelds erblickte er den Entmacher, jenen großen Vernichter, wie einen durchsichtigen Schatten, seine schimmernden Finger schnitten durch den Wald. Den roten Ta-Kumsaw konnte Alvin heilen. Doch wer konnte den Laubwald heilen? Wer konnte die Wunden heilen, die allen Indianern zugefügt wurden? Alles, was Ta-Kumsaw aufgebaut hatte, fiel der Zerstörung anheim, und alles, was Alvin tun konnte, war, einen einzigen Mann am Leben zu halten. Gewiß, einen großen Mann, einen Mann, der die Welt verändert hatte, der etwas aufgebaut hatte, auch wenn dieses Etwas am Ende zu noch mehr Leid und Schmerz führte. Ta-Kumsaw war ein Erbauer, und doch wußte Alvin schon jetzt, da er sein Leben rettete, daß Ta-Kumsaws Tage des Erbauens zu Ende waren. Höchstwahrscheinlich neidete der Entmacher Alvin nicht das Leben seines Freundes. Was war schon Ta-Kumsaw, verglichen mit dem, was der große Urschöpfer bei diesem Fest noch alles verschlang? Und schließlich, als die vielen Wunden Alvins Kräfte überstiegen und das Blut nur noch so hervorströmte, stürzte Ta-Kumsaw in Alvins Unterschlupf, fiel er auf den Jungen, der unter seiner Last beinahe erstickte.
Alvin hörte kaum, wie man um sie herum nach Ta-Kumsaw suchte. Er war zu sehr damit beschäftigt, Wunden zu heilen, zerrissenes Fleisch ganz zu machen, zerfetzte Nervenstränge miteinander zu verbinden und gebrochene Knochen zu richten. In seinem verzweifelten Bemühen, Ta-Kumsaws Leben zu retten, öffnete er die Augen und schnitt mit seinem eigenen Steinmesser ins Fleisch des roten Mannes hinein, um Geschosse herauszuhebeln und die Wunden danach wieder zu heilen. Und die ganze Zeit war es, als würden sich Rauch und Pulverdampf über ihnen zusammenballen, so daß niemand in das kleine Versteck hineinschauen konnte, wo der Entmacher Alvin gefangengehalten hatte.
Alvin erwachte erst am nächsten Nachmittag wieder. Neben ihm lag Ta-Kumsaw, matt und erschöpft, aber heil.
Vorsichtig kroch Alvin unter Ta-Kumsaw hervor, der sich so leicht anfühlte wie eine Feder. Inzwischen war der Rauch verflogen, doch Alvin fühlte sich noch immer unsichtbar, wie er so bei hellichtem Tageslicht wie ein Roter gekleidet umherging. Aus dem Lager der Amerikaner neben den Ruinen von Detroit ertönte betrunkener Gesang. Noch immer zogen vereinzelte Rauchschwaden durch die Bäume. Und überall, wo Alvin ging, lagen die Leichen von roten Männern wie nasses Stroh auf dem Waldboden. Es stank nach Tod.
Alvin fand einen Bach und trank, wusch sich Gesicht und Hände, tauchte den Kopf ins Wasser, um sich abzukühlen. Dann kehrte er zu Ta-Kumsaw zurück, um ihn zu wecken und ihm etwas zu trinken zu bringen.
Ta-Kumsaw war bereits wach. Er stand über den Leichnam eines gefallenen Freundes gebeugt. Den Kopf hatte er zurückgelegt und den Mund weit geöffnet, als würde er einen Schrei hervorstoßen, der so tief und so laut war, daß menschliche Ohren ihn nicht vernehmen konnten. Alvin lief auf ihn zu, schlang die Arme um ihn, klammerte sich an ihn, ganz das Kind, das er war, nur daß es Alvin war, der dabei Trost spendete. Er flüsterte: »Ihr habt Euer Bestes gegeben. Ihr habt getan, was getan werden konnte.«
Und Ta-Kumsaw antwortete nicht, obwohl sein Schweigen auch eine Antwort war, so als würde er sagen: Ich bin am Leben, was bedeutet, daß ich nicht genug getan habe.
Am Nachmittag gingen sie davon und machten sich dabei nicht einmal die Mühe, sich zu verbergen. Später erwachten einige weiße Männer verkatert und schworen, daß sie Ta-Kumsaw und den Renegado-Jungen gesehen hätten, wie sie zwischen den Gefallenen der Rotenarmee dahingeschritten seien, doch niemand hörte auf sie.
Bis sie zum Oberlauf des My-Ammy gelangt waren, wechselten Alvin und Ta-Kumsaw kein Wort. Und selbst als sie sich dort ein Kanu bauten, sagte Ta-Kumsaw kaum etwas zu ihm. Alvin ließ das Holz an den richtigen Stellen weich werden, so daß sie kaum eine halbe Stunde brauchten. Eine weitere halbe Stunde benötigten sie, um ein gutes Paddel anzufertigen. Dann brachten sie das Kanu ans Ufer. Als das Kanu schon halb im Wasser war, drehte sich Ta-Kumsaw zu Alvin um, streckte die Hand aus und berührte ihn im Gesicht. »Wenn alle weißen Männer so treu und wahrhaftig wären wie du, Alvin, wäre ich nie zu ihrem Feind geworden.«
Und als Alvin zusah, wie Ta-Kumsaw den Fluß entlangpaddelte, bis er verschwunden war, meinte er, daß es sich einfach nicht so anfühlte, als hätte Ta-Kumsaw verloren. Als sei es in der Schlacht überhaupt nicht um Ta-Kumsaw gegangen. Es war um den weißen Mann gegangen und darum, ob er dieses Land wert war. Der weiße Mann mochte glauben, daß er gesiegt habe, doch in Wahrheit war er es, der verloren hatte. Denn als Ta-Kumsaw den Wobbish hinunter zum Hio paddelte, den Hio hinunter zum Mizzipy, nahm er das Land mit, den Grüngesang; was der weiße Mann mit soviel Blut und Unehrlichkeit gewonnen hatten, war nicht das lebendige Land des roten Mannes, sondern nur sein Leichnam. Und er würde unter seinen Fingern zu Staub werden.
Aber Alvin war ein weißer Mann und kein Roter, was immer andere auch sagen mochten. Und ob es nun unter seinen Füßen verfaulte oder nicht, dieses Land war alles, was sie hatten.
Und so schritt Alvin am Ufer des Wobbish flußabwärts; er wußte, daß er dort, wo sich der Tippy-Canoe in den größten Strom ergoß, seinen Pa und seine Ma finden würde, die darauf warteten zu erfahren, was mit ihm in jenem Jahr geschehen war, seit er sich aufgemacht hatte, um am Hatrack River eine Lehre als Schmied anzutreten.
19. Heimkehr
Napoleon trug keine Ketten während seiner Rückkehr nach Frankreich. Er schlief in der zweiten Kabine und speiste am Tisch des Gouverneurs La Fayette, der nur zu froh war, ihn dabeizuhaben. In den heißen Nachmittagen der Atlantiküberquerung vertraute La Fayette Napoleon alle seine Revolutionspläne an, ihm, seinem liebsten Freund; und Napoleon machte hilfreiche Vorschläge, wie man die Revolution sehr viel schneller und sehr viel wirkungsvoller vorantreiben könne.