»Niemals!« rief Smelos. »Roptat war kein Verräter!«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Rasa besänftigend. »Es kommt doch nur darauf an, daß Gab ihr Feind war und du damit ihr Freund bist. Das ist das Mindeste, was sie tun können, dich aufzunehmen.«
»Wie lange werde ich fortbleiben müssen?« fragte Smelost. »Hier wohnt eine Frau, die ich liebe. Ich habe einen Sohn.«
»Nicht lange«, sagte Rasa. »Nachdem Gab tot ist, wird auch der Tumult bald ersterben. Er war die Ursache davon, und nun werden wir wieder Frieden bekommen. Möge die Überseele mir verzeihen, daß ich dies sage, doch falls Nafai ihn getötet hat, hat er damit vielleicht etwas Gutes getan, zumindest für Basilika.«
An der Tür klopfte es laut.
»Es geht schon los!« sagte Rasa.
»Sie können nicht wissen, daß ich hier bin«, sagte Smelost.
»Schuja, nimm ihn mit ihn die Küche und statte ihn mit Proviant aus. Ich werde sie an der Tür aufhalten, so lange ich kann. Luet, hilf deiner Schwester.«
Aber es waren nicht Palwaschantus Soldaten an der Tür oder Stadtwächter oder irgendwelche Amtsträger. Statt dessen war es Vas, Sevets Gatte.
»Es tut mir leid, dich zu dieser Stunde zu stören.«
»Mich und mein ganzes Haus«, sagte Rasa. »Ich weiß bereits, daß Sevets Vater tot ist, aber ich weiß auch, du hast es gut gemeint, zu mir zu kommen und …«
»Er ist tot?« sagte Vas. »Gaballufix? Dann erklärt das vielleicht … Nein, es erklärt nichts.« Er schaute verängstigt und wütend drein. Rasa hatte ihn noch nie so gesehen.
»Was ist denn los?« fragte Rasa. »Warum bist du hier, wenn du nicht weißt, daß Gab tot ist?«
»Eine von Kokors Nachbarinnen hat mich geholt. Es ist Sevet. Sie hat einen Schlag gegen den Hals abbekommen — sie wäre fast gestorben. Eine sehr schlimme Verletzung. Ich dachte, du wolltest mit mir kommen.«
»Du hast sie allein gelassen? Um zu mir zu kommen?«
»Ich war nicht bei ihr«, sagte Vas. »Sie ist in Kokors Haus.«
»Was hat Sevet denn dort zu suchen?« Einer der Diener half Rasa bereits, einen Mantel anzulegen, damit sie vor die Tür gehen konnte. »Kokor ist heute abend doch aufgetreten, oder? Ein neues Stück.«
»Sevja war bei Obring«, sagte Vas. Er führte sie hinaus auf den Säulengang; der Diener schloß die Tür hinter ihnen. »Deshalb hat Kjoka sie geschlagen.«
»Kjoka hat sie auf den … Kjoka war das?«
»Sie hat sie überrascht. So erzählt man sich die Geschichte zumindest in der Nachbarschaft. Obring war splitternackt, als er die Ärztin geholt hat, und als sie zurückkamen, war auch Sevja nackt. Kjoka hat sie beatmet, um sie zu retten. Sie haben ihr eine Röhre in den Hals geschoben, und sie atmet, sie wird nicht sterben. Das ist alles, was die Nachbarn mir erzählen konnten.«
»Daß Sevet lebt«, sagte Rasa verbittert, »und wer nackt war.«
»Ihr Hals«, sagte Vas. »Wenn der Schlag Sevet die Stimme kostet, wäre es vielleicht gnädiger von Kokor gewesen, sie einfach zu töten.«
»Arme Sevja«, sagte Rasa. Über die Straßen marschierten Soldaten, doch Rasa schenkte ihnen keine Beachtung, und sie — vielleicht, weil Vas und Rasa besorgt wirkten und es eilig hatten — machten keine Anstalten, sie aufzuhalten. »In derselben Nacht ihren Vater und ihre Stimme zu verlieren.«
»Wir alle haben heute nacht etwas verloren, nicht wahr?« sagte Vas verbittert.
»Es geht nicht um dich«, sagte Rasa. »Ich glaube, Sevet liebt dich wirklich, auf ihre Weise.«
»Ich weiß — sie hassen einander so sehr, daß sie alles tun würden, um einander zu verletzen. Aber ich dachte, es würde mit der Zeit besser werden.«
»Vielleicht wird es jetzt besser werden«, sagte Rasa. »Schlimmer kann es jedenfalls nicht mehr werden.«
»Kjoka hat es auch versucht«, sagte Vas. »Ich habe sie beide Male abgewiesen. Warum konnte Obring nicht genug Grips haben, auch Sevet zurückzuweisen?«
»Den Grips hat er«, sagte Rasa. »Es mangelt ihm nur an Stärke.«
Die Szene in Kokor s Haus war sehr rührend. Jemand hatte aufgeräumt. Das Bett war nicht mehr von Liebesspielen zerwühlt; nun war es glatt, abgesehen von der Stelle, auf der Sevet lag, prüde in einem von Kokors bescheidensten Nachthemden. Auch Obring war es gelungen, sich anzukleiden, und nun hockte er in der Ecke und tröstete eine weinende Kokor. Die Ärztin begrüßte Rasa an der Zimmertür.
»Ich habe das Blut aus den Lungen abgepumpt«, sagte sie. »Sie ist nicht mehr in Lebensgefahr, aber die Atemröhre darf noch nicht entfernt werden. Ein Halsspezialist wird bald hier sein. Vielleicht wird die Verletzung ohne Vernarbungen heilen. Ihre Karriere ist vielleicht noch nicht beendet.«
Rasa setzte sich neben ihre Tochter auf das Bett und nahm Sevjas Hand. Der Geruch nach Erbrochenem hing noch immer im Raum, obwohl der Boden noch naß vom Putzen war. »Nun, Sevja«, flüsterte Rasa, »hast du diese Runde gewonnen oder verloren?«
Eine Träne zwängte sich zwischen Sevets Lidern hinaus.
Auf der anderen Zimmerseite stand Vas vor Obring und Kokor. Sein Gesicht war rot vor — was, Wut? Oder war sein Gesicht lediglich von der Anstrengung ihres schnelles Marsches gerötet?
»Obring«, sagte Vas, »du elender kleiner Idiot. Nur ein Narr pißt in die Suppe seines Bruders.«
Obring sah mit verkniffenem Gesicht zu ihm auf und dann wieder zu seiner Frau, die um so heftiger schluchzte. Rasa kannte Kokor gut genug, um zu wissen, daß ihr Weinen zwar aufrichtig war, aber auch das größtmögliche Mitgefühl für sie hervorrufen sollte. Rasa konnte ihr fast keins geben. Sie wußte ganz genau, wie wenig ihre Töchter sich um die Exklusivklauseln ihrer Eheverträge geschert hatten, und sie hatte kein Mitgefühl für treulose Menschen, die verletzt waren, nachdem sie herausgefunden hatten, daß auch ihre Lebensgefährten untreu waren.
Es war Sevet, die wirklich litt, nicht Kokor. Rasa konnte sich von Sevets Bedürfnissen nicht ablenken lassen, nur weil Kokor so laut und Sevet leise war.
»Ich bin bei dir, meine Tochter«, sagte Rasa. »Das ist nicht das Ende der Welt. Du lebst, und dein Gatte liebt dich. Laß das für eine Weile deine Musik sein.«
Sevet hielt ihre Hand fest. Ihr Atem ging flach und keuchend.
Rasa drehte sich zu der Ärztin um. »Weiß sie, was mit ihrem Vater geschehen ist?«
»Sie weiß es«, sagte Obring. »Kjoka hat es uns gesagt.«
»Der Überseele sei Dank, daß wir nur einer Beerdigung beiwohnen müssen«, sagte Rasa.
»Kjoka hat ihrer Schwester das Leben gerettet«, sagte Obring. »Sie hat ihr Atem geschenkt.«
Nein, ich habe ihr den Atem eingegeben, dachte Rasa. Ich habe ihr den Atem geschenkt, doch leider konnte ich ihr keinen Anstand geben oder Vernunft. Ich konnte sie nicht aus dem Bett ihrer Schwester fernhalten oder von dem Mann ihrer Schwester. Aber ich habe ihr den Atem eingegeben, und vielleicht wird dieser Schmerz sie etwas lehren. Mitgefühl vielleicht. Oder zumindest etwas Selbstbeherrschung. Damit etwas Gutes aus dieser Sache erwächst. Etwas, das sie zu meiner Tochter werden läßt, und nicht zu Gaballufix’; beide waren sie bislang in erster Linie Gaballufix’ Töchter.
Hoffentlich wendet sich alles zum Guten, betete Rasa stumm vor sich hin. Doch dann fragte sie sich, zu wem sie betete. Zu der Überseele, deren Einmischung so viele andere Probleme ausgelöst hatte? Von ihr werde ich keine Hilfe bekommen, dachte Rasa. Ich bin jetzt auf mich allein gestellt, muß versuchen, meine Familie und meine Stadt über die schrecklichen Tage zu bringen, die uns bevorstehen. Ich habe keine Macht oder Befugnis, über keins der beiden, abgesehen von der Kraft, die aus Liebe und Klugheit erwächst. Die Liebe habe ich. Wenn ich nur sicher sein könnte, auch die Klugheit zu haben.