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Gelegenheit

Der Traum der Wasserseherin

Luet hatte noch nie versucht, einen Traum absichtlich, unter Zwang, herbeizuführen, und so war ihr noch nie in den Sinn gekommen, daß sie sich nicht einfach schlafenlegen und träumen konnte, nur weil sie es wollte. Ganz im Gegenteil — zweifellos hatte das Gefühl der Dringlichkeit sie wachgehalten und ihr zu träumen unmöglich gemacht. Sie war wütend und beschämt, daß sie von der Überseele nichts hatte erfahren können, bevor Tante Rasa eine Entscheidung treffen mußte, was mit diesem Soldaten, Smelost, zu tun sei. Um so schlimmer wurde alles noch, weil sie überzeugt war, obwohl die Überseele ihr nichts gesagt hatte, daß es ein Fehler war, Smelost zu den Gorajni zu schicken. Der Gedanke, weil Gaballufix ein Feind der Gorajni gewesen war, würden die Gorajni Gaballufix’ Feind automatisch willkommen heißen und ihm Schutz gewähren, kam ihr zu einfach vor.

Luet hatte das Wort ergreifen und ihr sagen wollen: »Tanta Rasa, die Gorajni sind nicht unbedingt unsere Freunde.« Sie hätte es vielleicht sogar gesagt, doch Rasa war mit Vas aus dem Haus gestürmt, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie Smelost die Vorräte einpackte, die die Dienstboten ihm brachten, und dann durch die Hintertür hinausschlüpfte.

Warum hatte Rasa nicht nur einen Augenblick länger nachgedacht? Wäre es nicht besser gewesen, Smelost zu Wetschik in die Wüste zu schicken? Aber er war nicht mehr der Wetschik, oder? Er war jetzt nur noch Volemak, der Mann, der Wetschik gewesen war, bis Gaballufix ihm den Titel genommen hatte. Wann war das gewesen? Erst gestern? Nur noch Volemak — doch Luet wußte, daß Volemak von allen großen Männern Basilikas der einzige war, der Teil der Pläne der Überseele war.

Die Überseele hatte all diese Probleme ausgelöst, indem sie Volemak eine Vision gegeben hatte, in der er ein brennendes Basilika gesehen hatte. Sie hatte ihn gewarnt, daß ein Bündnis mit Potokgavan zur Vernichtung Basilikas führen würde. Sie hatte nicht verkündet, daß Basilika die Gorajni unbesehen für Freunde halten durfte. Und nach allem, was Luet über die Gorajni wußte — die Naßköpfe, wie sie genannt wurden, weil sie ihr Haar einölten —, war es eine schlechte Idee, Smelost zu ihnen zu schicken, damit er um ihren Schutz bat. Das würde bei den Gorajni den falschen Eindruck erwecken. Es würde sie zu der Annahme führen, daß ihre Verbündeten in Basilika nicht sicher waren. Konnte sie das vielleicht nicht dazu verleiten, genau das zu tun, wovon alle sie abhalten wollten — die Stadt zu überfallen und zu erobern?

Nein, es war ein Fehler, Smelost zu ihnen zu schicken. Doch da Luet nicht als Wasserseherin zu dieser Schlußfolgerung gelangt war, sondern sie statt dessen aufgrund eigener Überlegungen erreicht hatte, würde niemand auf sie hören. Sie war ein Kind, abgesehen von den Gelegenheiten, wenn die Überseele in ihr war, und so brachte man ihr nur Respekt entgegen, wenn sie nicht sie selbst war. Es machte sie wütend, doch was konnte sie schon dagegen tun, abgesehen zu hoffen, daß sie sich irrte, was Smelost und die Gorajni betraf, und dann ungeduldig zu warten, bis sie endgültig zu einer Frau wurde?

Vielleicht noch größere Sorgen bereitete ihr die Tatsache, daß es Rasa gar nicht ähnlich sah, so falsche Schlüsse zu ziehen. Rasa schien aus Furcht zu handeln, ohne richtig nachzudenken. Und worauf konnte Luet sich überhaupt noch verlassen, wenn Rasas Urteilsfähigkeit getrübt war?

Ich will mit jemandem sprechen, dachte sie. Nicht mit ihrer Schwester Huschidh — die liebe Schuja war sehr klug und freundlich und würde ihr zuhören, doch alles, was außerhalb von Basilika vor sich ging, war ihr einfach gleich gültig. Das war das Problem mit den Entwirrerinnen. Huschidh lebte im ständigen Bewußtsein aller Verbindungen und Beziehungen zwischen den Menschen in ihrer Nähe. Dieser Netz-Sinn war natürlich das Wichtigste in ihrem Leben; sie beobachtete, wie Menschen sich zusammentaten und wieder voneinander trennten, Gemeinschaften bildeten und wieder auflösten. Und dem allem lag Schujas starkes Verständnis von der Struktur Basilikas selbst zugrunde. Sie liebte die Stadt — aber sie kannte sie so gut, hatte sich so sehr darauf konzentriert, daß sie einfach keine Vorstellung davon hatte, in welchem Verhältnis Basilika zur Außenwelt stand. Solche Beziehungen waren zu groß und unpersönlich.

Luet hatte sogar versucht, diese Angelegenheit mit ihr zu besprechen, doch Huschidh war fast sofort eingeschlafen. Luet konnte ihr keine Vorwürfe machen. Schließlich dämmerte es fast schon, und sie hatten die Nacht über kaum geschlafen. Luet war ebenfalls sehr müde.

Wenn ich doch nur mit Nafai oder Issib sprechen könnte. Besonders mit Nafai — er kann mit der Überseele sprechen, wenn er wach ist. Vielleicht stellen sich bei ihm nicht die Visionen ein, die ich habe, vielleicht sieht er nicht mit der Tiefe und Klarheit einer Wasserseherin, doch er kann Antworten bekommen. Praktische, einfache Antworten. Und er muß nicht schlafen, um sie zu erhalten. Wäre er doch nur hier! Und doch hat die Überseele ihn und seinen Vater und all seine Brüder fortgeschickt, hinaus in die Wüste. Dorthin hätte auch Smelost gehen sollen. Zu Nafai. Wenn nur jemand wüßte, wo er ist.

Schließlich, endlich sanken Luets aufgebrachte Gedanken in den chaotischen Geisteszustand des Schlafes, und aus ihrem unsteten Schlummer kam ein Traum, ein Traum, an den sie sich erinnern würde, denn er kam nicht aus ihr, sondern von außen, und hatte eine Bedeutung, die über die zufälligen Zündungen ihres Gehirns während des Schlafs hinausging.

»Wach auf«, sagte Huschidh.

»Ich bin wach«, sagte Luet.

»Diese Antwort hast du mir schon zweimal gegeben, Lutja, und jedesmal hast du weitergeschlafen. Es ist Morgen, und die Dinge stehen noch schlimmer, als wir gedacht haben.«

»Wenn du das jedesmal gesagt hast, als ich aufgewacht bin«, sagte Luet, »ist es kein Wunder, daß ich weitergeschlafen habe.«

»Du hast lange genug geschlafen«, sagte Huschidh und schickte sich dann an, ihr alles zu erzählen, was sich in der vergangenen Nacht in Kokors Haus zugetragen hatte.

Luet konnte kaum begreifen, daß so etwas tatsächlich geschehen war — nicht bei jemandem, der mit Rasas Haus in Verbindung stand. Und doch war es mehr als nur ein Gerücht. »Deshalb hat Vas Tante Rasa mitgenommen«, sagte Luet.

»Du hast des Morgens einen so wachen Verstand.«

Ihre Gedanken waren so schwerfällig, daß Luet einen Augenblick lang brauchte, um zu begreifen, daß Huschidh ironisch war. »Ich habe geträumt«, sagte sie, um ihre Dummheit zu erklären.

Aber Huschidh war nicht an ihrem Traum interessiert. »Für die arme Tanta Rasa fängt der Alptraum an, wenn sie aufwacht.«

Luet versuchte, etwas Positives zu sehen. »Zumindest kann sie sich damit trösten, daß Kokor und Sevet die Nichten von Dhelembuvex waren — es wird nicht auf ihr Haus zurückfallen …«

»Nicht zurückfallen … Sie sind ihre Töchter, Lutja. Und Tantchen Dhel war ständig mit ihnen hier in diesem Haus, als sie aufwuchsen. Das hat nichts mit ihrer Erziehung zu tun. Das kommt davon, wenn man Gaballufix’ Tochter ist. Wie feinsinnig ironisch, daß in derselben Nacht, in der er stirbt, eine seiner Töchter der anderen mit einem Schlag gegen den Hals die Stimme nimmt.«

»Mit jedem Wort strömt süße Freundlichkeit von deinen Lippen, Schuja.«

Huschidh funkelte sie an. »Du hast Tanta Rasas Töchter genausowenig ausstehen können wie ich. Komm mir jetzt also nicht auf die Tour.«

In Wirklichkeit interessierte Luet sich nicht besonders für Rasas Töchter. Sie war zu jung gewesen, als sie zum letzten Mal in Rasas Haus waren, um sich mit ihnen anzufreunden. Doch die ältere Huschidh konnte sich genau daran erinnern, wie es gewesen war, sie ständig im Haus zu haben, während Kokor tatsächlich am Unterricht teilnahm und beide von Freiern umgeben waren. Huschidh hatte oft den Witz gerissen, daß in einem Bordell auch nicht mehr Pheromone herumschwirren konnten, doch Huschidhs Abscheu für Kokor und Sevet hatte nichts damit zu tun, daß die Männer sie so attraktiv fanden. Er hatte vielmehr etwas mit ihrer heftigen Eifersucht auf jedes Mädchen zu tun, das sich Rasas Liebe und Respekt verdient hatte. Huschidh war keine Rivalin für sie, und doch hatten sie beide ihr gnadenlos nachgesetzt und sie verspottet, wenn die Lehrerinnen es nicht hören konnten, bis sie gewissermaßen zu einem Geist in Rasas Haus geworden war, sich bis zum Unterrichtsbeginn versteckt hatte und danach davongelaufen war, die gemeinsamen Mahlzeiten gemieden hatte, vor Parties und Feiern zurückgeschreckt war, bis Kokor und Sevet in gnädig jungen Jahren geheiratet hatten — mit vierzehn beziehungsweise fünfzehn Jahren — und ausgezogen waren. Sevet war damals schon eine bekannte Sängerin gewesen, und ihr Üben — und auch Kokors — hatte das Haus wie mit Vogelgesang erfüllt. Doch weder sie noch Kokor hatten wahre Musik in Rasas Haus gebracht. Im Gegenteil, die Musik kehrte zurück, nachdem sie endlich gegangen waren. Und Huschidh war allen außer Luet gegenüber still und schüchtern geblieben. So interessierte sich Huschidh natürlich mehr für die bittere Tragödie, die Rasas Töchter inszeniert hätten. Luet war nur betroffen darüber, weil es Tanta Rasa traurig machen würde.