»Schuja, das ist doch nur ein Skandal. Was sagt man über diesen Soldaten? Und über Gaballufix’ Tod?«
Huschidh blickte auf ihren Schoß hinab. Sie wußte, daß Luet sie in Wirklichkeit tadelte, weil sie trivialen Angelegenheiten eine falsche Priorität gegeben hatte; doch sie akzeptierte den Tadel und verteidigte sich nicht. »Es heißt, Smelost sei von Anfang an Nafais Mitverschwörer gewesen. Raschgallivak verlangt, daß der Rat feststellt, wer Smelost die Flucht aus der Stadt ermöglicht hat, obwohl kein Haftbefehl oder so gegen ihn ausgestellt war, als er Basilika verließ. Rasa versucht, die Stadtwache unter die Kontrolle der Palwaschantu zu bringen. Eine sehr häßliche Lage.«
»Und was, wenn Tante Rasa als Smelosts Komplizin verhaftet wird?«
»Komplizin wobei?« fragte Huschidh. Nun war sie Huschidh die Entwirrerin, die über die Stadt Basilika sprach, und nicht die Schülerin Schuja, die eine häßliche Geschichte über ihre Peinigerinnen erzählte. Luet hieß die Veränderung willkommen, wenngleich sie mit sich brachte, daß Huschidh sich so offen erstaunt über Luets Mangel an Verständnis zeigte. »Was glaubst du, wie verrückt können die Leute überhaupt werden? Raschgallivak kann versuchen, sie aufzuhetzen, aber er ist kein Gaballufix — er hat nicht die magnetische Persönlichkeit, die man braucht, sollen die Leute einem über einen langen Zeitraum folgen. Tante Rasa wird sich im Rat gegen ihn durchsetzen, und dann ist er erledigt.«
»Ja, ich glaube schon«, sagte Luet. »Aber Gaballufix hatte so viele Soldaten, und jetzt verfügt Raschgallivak über sie …«
»Rasch hat keine guten Beziehungen«, sagte Huschidh. »Die Leute haben ihn immer gemocht und respektiert, aber nur als Verwalter — insbesonders als Wetschiks Verwalter —, und sie werden ihm wohl kaum von Anfang an die volle Ehre erweisen, die dem Wetschik gebührt, ganz zu schweigend von dem Respekt, den Gaballufix als Kopf der Palwaschantu bekam. Er hat nicht halb soviel Macht, wie er sich vorstellt — aber genug, um Ärger zu machen, und das ist sehr beunruhigend.«
Luet war endlich völlig wach und kroch zum Rand ihres Bettes. Ihr fiel ein, daß sie noch etwas erzählen mußte. »Ich habe geträumt«, sagte sie.
»Das hast du schon gesagt.« Dann begriff Huschidh, was sie meinte. »Oh. Etwas spät, meinst du nicht auch?«
»Nicht von Smelost. Über etwas … sehr Seltsames. Und doch kam es mir wichtiger vor als alles, was zur Zeit um uns herum geschieht.«
»Ein Wahrtraum?« fragte Huschidh.
»Ich bin mir nie sicher, aber ich glaube schon. Ich erinnere mich so deutlich daran, daß die Überseele ihn mir geschickt haben muß.«
»Dann erzähle ihn mir, während wir zum Frühstück gehen. Es ist schon fast Mittag, aber Tante Rasa hat die Köchin angewiesen, uns trotzdem etwas zuzubereiten, weil wir die halbe Nacht aufgewesen sind.«
Luet zog ein Gewand über den Kopf, schlüpfte in Sandalen und folgte Huschidh die Treppe hinab in die Küche. »Ich habe von fliegenden Engeln geträumt.«
»Engel! Und was hat das zu bedeuten, abgesehen davon, daß du im Schlaf abergläubisch bist?«
»Sie sahen nicht aus wie auf den Bildern in den Kinderbüchern, falls du das meinst. Nein, sie ähnelten eher großen, grazilen Vögeln. Eigentlich Fledermäusen, denn sie hatten ein Fell. Aber mit sehr intelligenten und ausdrucksstarken Gesichtern, und irgendwie habe ich in dem Traum gewußt, daß sie Engel waren.«
»Die Überseele bedarf keiner Engel. Die Überseele spricht direkt zum Verstand einer jeden Frau.«
»Und eines jeden Mannes, obwohl kaum noch jemand zuhört, genau, wie du mir nicht zuhörst, Schuja. Soll ich dir den Traum erzählen oder nur Brot und Honig und Rahm essen und mir dabei denken, daß die Überseele nichts zu sagen hat, das dich interessieren könnte?«
»Sei nicht so abscheulich zu mir, Luet. Du magst ja diese wunderbare Wasserseherin oder sonstwer sein, aber wenn du so schnippisch zu mir bist, bist du nur meine dumme, kleine Schwester.«
Die Köchin funkelte sie an. »Ich versuche, in einer Küche voller Licht und Harmonie zu wirtschaften«, sagte sie.
Verlegen nahmen sie das heiße Brot, das sie ihnen reichte, und setzten sich an den Tisch, wo bereits ein Krug mit Rahm und einer mit Honig warteten. Huschidh brach, wie immer, ihr Brot in eine Schüssel und goß den Rahm und den Honig darüber; Luet strich, wie immer, den Honig auf das Brot und trank den Rahm getrennt davon aus der Schüssel. Beide gaben vor, die Eßgewohnheiten der jeweils anderen zu verabscheuen. »Trocken wie Staub«, flüsterte Huschidh. »Feucht und schleimig«, erwiderte Luet. Dann lachten beide laut auf.
»Schon besser«, sagte die Köchin. »Ihr solltet es doch besser wissen, als euch ständig zu streiten.«
»Der Traum«, sagte Huschidh mit vollem Mund.
»Engel«, sagte Luet.
»Ja, und sie flogen. Haarige Engel, wie fette Fledermäuse. Das habe ich schon mitbekommen.«
»Nicht fett.«
»Aber auf jeden Fall Fledermäuse.«
»Grazil«, sagte Luet. »In die Lüfte aufstrebend, so waren sie. Und ich war einer davon und flog und flog. Es war so schön und friedlich. Und dann sah ich den Fluß, und ich flog zu ihm hinab und nahm am Ufer den Lehm und machte eine Statue daraus.«
»Engel, die im Dreck spielen?«
»Nicht seltsamer als Fledermäuse, die Statuen machen«, gab Luet zurück. »Und dein Kinn läuft Milch hinab.«
»Na ja, dafür klebt an deiner Nase Honig.«
»Und auf deinem Kopf ist ein großes, häßliches Geschwür … oh, nein, das ist dein …«
»Mein Gesicht, ich weiß. Erzähl mir den Traum zu Ende.«
»Ich machte den Lehm weich, indem ich ihn in den Mund nahm, so daß ich, als ich — als Engel, versteh mich nicht falsch — die Statue machte, etwas von mir in ihr war. Ich glaube, das ist sehr bedeutungsvoll.«
»Ah, ziemlich symbolisch, ja.« Huschidhs Stimme klang scherzhaft, aber Luet wußte, daß sie genau zuhörte.
»Und es waren keine Statuen von Menschen oder Engeln oder so. Manche von ihnen hatten Gesichter, aber es waren keine Porträts, nicht mal Gegenstände. Die Statuen sahen genauso aus, wie sie aussehen sollten … aussehen mußten. Keine zwei von ihnen waren gleich, und doch wußte ich in diesem Augenblick, daß die Statue, die ich machte, die einzig mögliche war, die ich machen konnte. Ergibt das Sinn?«