Doch Muuzh mußte die Grenzen nicht nachziehen. Er kannte die Grenzen seines Heimatlandes Pravo Gollossa, des Landes der Sotschitsija, seines Stammes. Sie waren tausend Jahre vor den Gorajni aus dem Norden durch die Wüste gekommen, doch einst waren sie von derselben Herkunft, derselben Sprache gewesen. Doch die Sotschitsija hatten sich in den saftigen, gut bewässerten Tälern des Skrezhet-Gebirges niedergelassen, hatten sowohl das Nomadendasein als auch die Kriegszüge aufgegeben und waren zu einer Nation freier Menschen geworden. Sie lernten von dem Volk, das in ihrer Nachbarschaft lebte. Nicht von den Ploschudu oder den Khlami oder den Izmennikoj, denn das waren zähe Bergvölker ohne Kultur, aber voller Hunger und Stärke und dem Willen, trotz allem zu überleben. Nein, die Sotschitsija, das Volk von Pravo Gollossa, hatte von den Händlern gelernt, die von Seggidugu, von Ulje, von den Städten der Ebene /u ihnen kamen. Und vor allem von den Karawanen aus Basilika mit ihren seltsamen Liedern und ihrem genauso seltsamen Saatgut, mit den Bildern in Glas und den ausgeklügelten Werkzeugen, unmöglichen Stoffen, die mit der jeweiligen Tagesstunde die Farben änderten, und ihren Gedichten und Geschichten, die die Sotschitsija lehrten, wie klug und gebildet Männer und Frauen sprachen und dachten und träumten und lebten.
Das war die Glanzzeit der Pravo Gollossa, denn von diesen Karawanengängern übernahmen sie die Vorstellung eines Rates, der die Entscheidungen mit den Stimmen von Ratsmitgliedern traf, die wiederum von den Bürgern gewählt worden waren. Aber von diesen Karawanen aus Basilika erfuhren sie auch von einer Stadt, die von Frauen beherrscht wurde, in der Männer nicht einmal Land besitzen durften … und doch war die Stadt nicht zusammengebrochen, weil die Frauen unfähig waren zu herrschen, und doch hatten die Männer nicht rebelliert und die Stadt erobert, und die Frauen hatten nicht nur ein politisches Wahlrecht, sondern auch das, sich am Ende eines jeden Jahres von ihren Männern scheiden zu lassen und einen anderen zu heiraten, wenn sie es so wollten. Der ständige Druck dieser neuen Vorstellungen schwächte die Sotschitsija und verwandelte die einst starken Krieger und Herrscher des Stammes in Narren mit den Herzen von Frauen, und zu den Zeiten von Muuzh’ Urgroßvätern verliehen sie den Frauen schließlich das Wahlrecht und wählten Frauen, die über sie herrschen sollten.
Dann kamen die Gorajni, denn sie wußten nun, daß die Sotschitsija in ihren Herzen endlich Frauen geworden und daher der Freiheit nicht mehr würdig waren. Die Gorajni ließen ein großes Heer an der Grenze aufmarschieren, und die Frauen des Rates — genau so viele Männer wie Frauen, doch nichtsdestotrotz alles Weiber — entschieden sich dafür, nicht zu kämpfen, sondern die Oberhoheit der Gorajni zu akzeptieren, wenn diese ihnen in allen bis auf militärische Belange die Selbstverwaltung zubilligten. Es war eine schändliche Kapitulation, die endgültige Kastration der Sotschitsija, ihre Erniedrigung vor der gesamten Welt, und Muuzh’ eigener Urgroßvater war der Delegierte, der die Bedingungen ihrer Kapitulation mit den Gorajni aushandelte.
Fünfzig Jahre lang hatte die Vereinbarung Bestand — die Sotschitsija bestimmten über sich selbst. Doch mit der Zeit erklärten die Gorajni immer mehr Belange der Sotschitsija zu militärischen Angelegenheiten, bis der Rat schließlich nur noch ein Haufen alter, verängstigter Männer und Frauen war, die die Erlaubnis des Imperators einholen mußten, wenn sie pinkeln gehen wollten. Erst dann erinnerten sich einige Sotschitsija an ihre Männlichkeit. Sie warfen die Frauen hinaus, die sie beherrschten, und erklärten sich wieder zu einem Stamm, zu Wüstenwanderern, und schworen, die Gorajni bis zum letzten Mann zu bekämpfen. Die Gorajni brauchten drei Tage, um diese tapferen, aber nicht ausgebildeten Rebellen auf dem Schlachtfeld zu besiegen, und ein weiteres Jahr, um sie in den Bergen aufzuspüren und alle zu töten. Danach gab es keinen Vorwand mehr, daß die Sotschitsija noch irgendwelche Rechte hatten. Es war verboten, den Sotschitsija-Dialekt zu sprechen; Kinder, die ertappt wurden, wie sie ihn sprachen, hatten das Privileg, mitanzusehen, wie man ihren Eltern die Zunge abschnitt, einen Zentimeter für jeden Verstoß gegen das Gebot. Doch nur noch wenige Sotschitsija erinnerten sich überhaupt noch an ihre Sprache; die meisten davon waren alt, und viele hatten keine Zunge mehr.
Aber Muuzh kannte die Sprache. Muuzh trug sie in seinem Herzen. Obwohl er der erfolgreichste, der gefährlichste General des Imperators war, wußte er in seinem Herzen, daß seine wahre Sprache Sotschitsija war, nicht Gorajni. Und obwohl seine vielen Siege in Schlachten die großen Küstennationen Uslavat und Ulje unter die Herrschaft des Imperators gebracht hatten, obwohl seine klugen Strategien die dornigen Bergkönigreiche Plosch und Khlam unterworfen hatten, ohne daß eine einzige Schlacht geschlagen werden mußte, verabscheute Muuzh den Imperator insgeheim und trotzte ihm in seinem Herzen.
Denn Muuzh wußte besser als die meisten anderen, daß der Imperator fürwahr Gott höchstpersönich war, Muuzh konnte die Macht Gottes spüren, die ihn zu unterwerfen versuchte. Er hatte sie zuerst in seiner Jugend wahrgenommen, als er einen Platz im Gorajni-Heer suchte. Gott sprach nicht zu ihm, als er lernte, ein starker Soldat zu sein, mit muskelbepackten Armen und Schenkeln, imstande, eine Streitaxt durch das Rückgrat des Feindes zu treiben und ihn in zwei Hälften zu spalten. Doch als Muuzh sich als Offizier vorstellte, als General, der Heere führte, kam auch das schwerfällige, dumme Gefühl, das ihn dazu bringen wollte, solche Träume zu vergessen. Muuzh begriff — Gott wußte von seinem Haß auf den Imperator und wollte dafür sorgen, daß einer wie Muuzh niemals eine Macht bekam, die über die Kraft seiner Arme hinausging.
Doch Muuzh weigerte sich, die Niederlage einzugestehen. Wann immer er spürte, daß Gott ihn eine Vorstellung vergessen ließ, klammerte er sich an sie — er schrieb sie nieder und prägte sie sich ein, er machte in der Sotschitsija-Sprache ein Gedicht daraus, damit er sie niemals vergessen konnte. Und so baute er, Stück für Stück, in seinem Herzen eigene Regeln der Kriegsführung auf, auf jedem Schritt des Weges von Gott geleitet, denn von welchen Gedanken auch immer Gott ihn abhalten wollte, er wußte, genau daran mußte er denken, tief und gründlich.
Diese geheime Herausforderung Gottes erhob Muuzh über die einfachen Mannschaftsränge und machte ihn zum Hauptmann, als sein Regiment in Gefahr lief, von den Piraten von Revis aufgerieben zu werden. Alle anderen Offiziere waren gefallen, doch als Muuzh auf den Gedanken kam, den Befehl zu übernehmen und die wenigen Überlebenden außer ihm bei einem Gegenangriff auf die Flanke der unbeherrschten, siegreichen Reviti zu führen, verspürte er die Stumpfheit des Geistes, die ihm immer verriet, daß Gott nicht wollte, daß er dieser Idee nachging. Also schrie er die Stimme Gottes nieder und führte seine Männer bei einem törichten Angriff, der die Piraten dermaßen überraschte, daß sie ihre Schlachtformation aufgaben und flohen, und die anderen Gorajni faßten sich ein Herz und folgten Muuzh bei seinem jähzornigen Angriff, bis sie die Piraten am Flußufer stellten und alle töteten und ihre Schiffe verbrannten. Dann trugen sie Muuzh auf einem Triumphzug durch die Stadt Gollod, wo der Imperator Kamelmilchbutter in sein Haar rieb und ihn zu einem Helden der Gorajni ausrief. Doch in seinem Herzen wußte Muuzh, daß Gott zweifellos vorgehabt hatte, diesen Sieg einem treuen Sohn der Gorajni zufallen zu lassen. Nun, wie schade für den Imperator — wenn die Inkarnation Gottes nicht wußte, daß sie gerade ihrem Feind das Haar gesalbt hatte, konnte es mit ihr nicht weit hergeholt sein.