Schritt für Schritt hatte Muuzh die Befehlsleiter erklommen, bis er nun einem gewaltigen Heer vorstand. Die meisten seiner Männer waren nun allerdings in Ulje stationiert, denn der Imperator hatte befohlen, den Angriff auf Nakavalnu noch einen Monat zurückzustellen, bis das Wetter besser wurde und sie die Streitwagen einsetzen konnten, womit sie einen beträchtlichen Vorteil erringen würden. Hier in Khlam stand ihm nur ein Regiment zur Verfügung, doch mehr benötigte er auch nicht. Schritt für Schritt würde er die Gorajni weiterführen, Nation um Nation unterwerfen, bis alle Städte an der Küste gefallen waren. Dann würde er gegen die Heere Potokgavans marschieren.
Und was dann? An manchen Tagen spielte Muuzh mit dem Gedanken, er würde seine Rache nehmen, indem er eine vollständige und endgültige Niederlage aller Heere der Gorajni orchestrierte. Er würde ihre gesamte militärische Macht an einer Stelle konzentrieren und dann dafür sorgen, daß alle Soldaten getötet wurden, er selbst auch. Dann, nachdem die Gorajni vernichtend geschlagen waren und Potokgavan über die gesamte Ebene herrschte — dann würden sich die Sotschitsija erheben und ihre Freiheit beanspruchen.
An anderen Tagen jedoch stellte Muuzh sich vor, daß er Potokgavans Heer vernichten würde. Dann gab es am gesamten Westufer der Erdgebundenen See keinen Rivalen mehr, der die Vorherrschaft der Gorajni herausfordern konnte. Dann würde er vor dem Imperator stehen, und wenn der Imperator die Hand ausstreckte, um sein Haar mit Kamelmilchbutter zu salben, würde Muuzh ihm den Kopf mit einem Hirschfänger abtrennen, ihm die Kamelhöckermütze abnehmen und sich selbst aufsetzen und erklären, daß das Reich, das ein Sotschitsija geschaffen hatte, nun auch von den Sotschitsija beherrscht wurde. Er würde der Imperator sein, und anstatt die Inkarnation Gottes zu sein, würde er der Feind Gottes sein, und die Sotschitsija würden als die größte Nation der Menschheit gelten und nicht mehr als Nation von Weibern.
Das waren seine Gedanken, als er die Karte studierte, während der Sturm Sand in sein Zelt blies und versuchte, es aus dem Boden zu reißen.
Plötzlich wurde er wach. Das Geräusch hatte sich verändert. Es war nicht mehr nur der Wind; jemand kratzte an seinem Zelt. Wer konnte so dumm sein, bei diesem Wetter vor die Tür zu gehen? Plötzlich verspürte er Furcht — war es vielleicht ein Attentäter, den der Imperator geschickt hatte, um zu verhindern, daß er den Verrat beging, von dem Gott mit Sicherheit wußte, daß er in seinem Herzen war?
Doch als er die Zeltklappe aufband und öffnete, kam mit dem Gestöber aus Sand und heißem Wind kein Meuchelmörder hinein, sondern Plod, sein bester Freund und Kamerad, begleitet von einem anderen Mann, einem Fremdem, der eine militärische Aufmachung trug, die Muuzh unbekannt war.
Plod befestigte die Zeltklappe persönlich — es wäre unangemessen gewesen, daß Muuzh dies tat, war doch ein rangniedrigerer Offizier anwesend, der es übernehmen konnte. Also konnte Muuzh den Fremden genau mustern. Er war kein Soldat, wirklich nicht — sein Brustkorb war stämmig, seine Klinge scharf, seine Kleidung ordentlich, und er hielt sich aufrecht wie ein Mann. Doch seine Haut war weich, und seinen Muskeln fehlte es an der Härte eines Mannes, der im Kampf ein Schwert geschwungen hatte. Er war einer jener Soldaten, die an einem Palast oder einer Mautstraße Wache standen, die gewöhnliche Bürger schikanierten, sich aber niemals einer angreifenden Feindeshorde stellen mußten, niemals einem Kriegswagen gefolgt waren, niemals all jene getötet hatten, die den Klingen entgangen waren, die sich mit den Radnaben der Streitwagen drehten.
»Welches Tor bewachst du?« fragte Muuzh.
Der Mann schaute verblüfft drein und warf Plod einen Blick zu.
Plod lachte nur. »Niemand hat ihm etwas gesagt, armer Mann. Glaubst du, du könntest General Vozmuzhalnoi Vozmozhno gegenübertreten und vor seinen Blicken etwas verheimlichen?«
»Mein Name ist Smelost«, sagte der weiche Soldat, »und ich bringe einen Brief von Herrin Rasa von Basilika.«
Er sprach den Namen aus, als müßte Muuzh ihn kennen. So waren diese Städter eben; sie gingen davon aus, daß Ruhm in ihrer Stadt gleichbedeutend mit Ruhm auf der ganzen Welt war.
Muuzh streckte die Hand aus und nahm den Brief entgegen. Natürlich war er nicht in den Blockbuchstaben des Gorajni-Alphabets verfaßt — das sie vor Jahrhunderten den Sotschitsija gestohlen hatten. Statt dessen war er in der schnörkeligen, vertikalen Kursivschrift Basilikas gehalten. Doch Muuzh war ein gebildeter Mann. Er konnte ihn problemlos lesen.
»Dieser Mann scheint unser Freund zu sein, lieber Plod«, sagte Muuzh. »Weil er einem Meuchelmörder zur Flucht verhelfen hat, ist sein Leben in Basilika nicht mehr sicher — aber der Meuchelmörder war auch unser Freund, da er einen Mann namens Gaballufix getötet hat, der dafür eingetreten ist, daß Basilika ein Bündnis mit Potokgavan eingeht und die Städte der Ebene gegen uns in den Krieg führt.«
»Ach«, sagte Plod.
»Wir haben nie gewußt, wie viele liebe Freunde wir in Basilika haben«, sagte Muuzh.
Plod lachte.
Smelost schaute mehr als nur etwas unbehaglich drein.
»Setz dich«, sagte Muuzh. »Du bist unter Freunden. Dir wird jetzt nichts geschehen. Treibe etwas Ale für ihn auf, ja, Plod? Er mag ein gewöhnlicher Soldat sein, doch er bringt uns einen Brief von einer feinen Dame, die dem Imperator nur Liebe und Sorge entgegenbringt.«
Plod hakte einen Krug vom hinteren Zeltpfosten los und gab ihn Smelost, der ihn verwirrt betrachtete.
Muuzh lachte, nahm Smelost den Krug aus den Händen und zeigte ihm, wie man ihn mit der Öffnung nach oben auf den Arm legen und schräghalten mußte, damit einem das Ale in den Mund floß. »In diesem Heer gibt es keine schönen Gläser, mein Freund. Du bist hier nicht unter den Damen Basilikas.«
»Das weiß ich selbst«, sagte Smelost.
»Dieser Brief ist so rätselhaft, mein Freund«, sagte Muuzh. »Sicher kannst du uns mehr sagen.«
»Nicht viel mehr, fürchte ich«, sagte Smelost und schluckte einen Mundvoll Ale. Es war viel süßer als Bier, und Muuzh sah, daß es ihm nicht schmeckte. Na ja, das spielte kaum eine Rolle, solange Smelost genug von der Droge aufnahm, die in dem Ale aufgelöst war und bewirkte, daß er die Wahrheit sprach. »Ich bin aufgebrochen, bevor irgend etwas klar wurde.« Er log natürlich, da er der Ansicht war, er solle nicht mehr sagen, als Herrin Rasa geschrieben hatte.
Doch bald verlor Smelost seine Zurückhaltung und erzählte Muuzh viel mehr, als er je beabsichtigt hatte. Doch Muuzh gab klug vor, das meiste davon schon zu wissen, damit Smelost nicht den Eindruck bekam, irgendwelche Geheimnisse verraten zu haben, wenn er später an das Gespräch und daran zurückdachte, wie viel er gesagt hatte.
Offensichtlich herrschte im Augenblick große Verwirrung in Basilika, doch die Teile des Bildes, auf die es Muuzh ankam, waren sehr klar. Zwei Parteien, eine, die für die Allianz mit Potokgavan, und eine, die dagegen eintrat, hatten um die Vorherrschaft in der Stadt gekämpft. Nun waren die Anführer beider Parteien tot, getötet in derselben Nacht, vielleicht von demselben Attentäter, doch Smelosts Erachtens wahrscheinlich nicht. Wilde Mordvorwürfe wurden erhoben; ein schwacher Mann beherrschte nun eine Gruppe von Söldnern, die ungebändigt durch die Straßen zog, während der Befehlshaber der Stadtwache unter Verdacht stand, weil dieser Mann, Smelost, den mutmaßlichen Attentäter vor zwei Nächten aus der Stadt hatte entkommen lassen.