Elemak musterte Issib und Meb und wußte, daß diese beiden sich nicht widersetzen würden, wenn der Tag kam. Doch Nafai würde Ärger machen, gesegnet sei sein kleines, liebes Herz. Und Nafai weiß es, dachte Elemak. Er weiß, daß es eines Tages auf ihr! und mich hinauslaufen wird. Denn eines Tages wird Vater versuchen, seine Macht an diesen elenden kleinen Jungen weiterzugeben, und das nur, weil Nafai und die Überseele so vertraut miteinander sind. Nun ja, Nafai, ich habe auch eine Vision von der Überseele gehabt — oder zumindest glaubt Vater das, was auf dasselbe hinausläuft.
»Brecht am Morgen auf«, sagte Vater. »Kehrt mit den Frauen zurück, die das Erbe mit uns teilen werden, das die Überseele in einem anderen Land für uns vorbereitet hat. Kommt mit den Müttern meiner Enkel zurück.«
»Mebbekew und ich«, sagte Elemak. »Sonst keiner.«
»Issib wird zu Hause bleiben, weil sein Stuhl und seine Flossen ihn zu verdächtig machen und er die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß eure Feinde dort euch aufgreifen werden«, sagte Vater. »Und auch Zdorab wird bleiben.«
Weil du ihm noch nicht ganz vertraust, dachte Elemak, ganz gleich, wie oft du sagst, daß er uns gleichberechtigt und ein freier Mann ist.
»Aber Nafai begleitet euch.«
»Nein«, sagte Elemak. »Er ist noch gefährlicher für uns als Issib. Sie werden mittlerweile herausgefunden haben, daß er Gaballufix getötet hat — der Stadtcomputer hat seinen Namen gespeichert, als er die Stadt verließ, und die Wachen haben gesehen, daß er Gaballufix’ Kleidung trug. Und er hatte Zdorab bei sich, was den Zusammenhang zwischen ihm und Gabs Tod noch verstärkt. Wenn wir Nafai mitnehmen, können wir unsere Feinde gleich bitten, ihn hinzurichten.«
»Er geht mit euch«, sagte Vater.
»Warum, wenn seine Anwesenheit uns doch nur in noch größere Gefahr bringt?« fragte Elemak.
»Ja, zwinge ihn dazu, es auszusprechen, Elja«, sagte Mebbekew. »Vater will dich nicht beleidigen, doch mir ist es egal. Er will, daß Nafai uns begleitet, weil, wie jemand vor kurzem klargestellt hat, Nafai den Index besorgt hat und wir anderen nicht. Er will, daß Nafai uns begleitet, weil er uns nicht vertraut, weil er befürchtet, daß wir Frauen finden, die uns aufnehmen, und in Basilika bleiben und nie mehr zu diesem Paradies am Bach zurückkehren werden. Er will, daß Nafai uns begleitet, weil er glaubt, daß wir uns dann benehmen werden.«
»Überhaupt nicht«, sagte Issib. »Vater will, daß er Kraft und Weisheit bekommt, indem er seine älteren Brüder begleitet.«
Niemand wußte genau, ob Issib dies ironisch meinte oder nicht. Niemand glaubte, daß dies Vaters wahre Absicht war, doch auch niemand — und am wenigsten Vater — wagte, es offen abzustreiten.
In der Stille hallten die Worte in Elemaks Ohren, die er zuletzt gesagt hatte: Wenn wir Nafai mitnehmen, können wir unsere Feinde gleich bitten, ihn hinzurichten.
»Na schön, Vater«, sagte Elemak. »Nafai kann mit mir kommen.«
In Basilika und nicht in einem Traum
Kokor begriff nicht, warum sie zurückgezogen leben sollte. Bei Sevet ergab es Sinn — sie erholte sich von ihrem unglücklichen Unfall. Ihre Stimme war noch nicht zurückgekehrt; es war ihr zweifellos peinlich, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Doch Kokor war bei bester Gesundheit, und daß sie in Mutters Haus bleiben sollte, konnte nur den Eindruck erwecken, sie würde sich schämen, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Wenn sie Sevet absichtlich verletzt hätte, wäre diese Zurückgezogenheit angebracht gewesen. Doch da es einfach ein unglücklicher Unfall gewesen war, die Folge einer psychologischen Störung aufgrund Vaters Tod und der Entdeckung des Ehebruchs von Sevet und Obring, konnte niemand Kokor Vorwürfe machen. Es würde ihr sogar guttun, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Es würde ihre Wiederherstellung bestimmt beschleunigen.
Zumindest sollte man ihr erlauben, in ihr eigenes Haus zurückzukehren, anstatt ihr zu befehlen, bei Mutter zu wohnen, als wäre sie ein kleines, geistig zurückgebliebenes Kind, das einen Vormund brauchte. Wo war Obring? Falls er beabsichtigte, sich mit ihr je wieder auszusöhnen, konnte er ja einen Anfang machen, indem er sie aus Mutters unerträglich langweiliger Umgebung herausholte. Hier tat sich nichts Interessantes. Nur endlose Unterrichtsstunden in Fächern, die Kokor damals schon nicht interessiert hatten, als sie vor Jahren mehr oder weniger erfolglos an ihnen teilgenommen hatte. Kokor war jetzt eine vermögende Frau. Mit ihrem Anteil an Vaters Hinterlassenschaft konnte sie sich wahrscheinlich ein Haus kaufen und eine eigene Bühne unterhalten. Und doch wohnte sie jetzt hier bei Mutter.
Nicht, daß sie Mutter oft sah. Rasa befand sich ständig in Gesprächen mit Ratsmitgliedern und anderen einflußreichen Frauen der Stadt, die praktisch Pilgerzüge unternahmen, um mit ihr sprechen zu können. Bei einigen dieser Konferenzen schien es zu beträchtlichen Spannungen zu kommen; bei Kokor stellte sich allmählich der Eindruck ein, daß zumindest einige Leute Rasa die Schuld an allem gaben. Als hätte Mutter versucht, Vater zu töten! Doch sie hatten nicht vergessen, daß Rasas derzeitiger Gatte, Wetschik, diese aufrührerische Vision von einem in Flammen stehenden Basilika gehabt hatte, und ihr ehemaliger Gatte, Gaballufix, die Straßen der Stadt zuerst mit den Tolschocks und dann mit Söldnern überschwemmt hatte. Und nun hieß es, daß ihr jüngster Sohn, Nafai, sowohl Roptat als auch Gaballufix getötet haben sollte.
Nun ja, selbst wenn das alles der Wahrheit entsprach – was hatte es mit Mutter zu tun? Frauen hatten kaum Gewalt über ihre Männer — hatte Kokor das nicht am eigenen Leib erlebt? Und daß Nafai Vater getötet hatte — falls er es getan hatte, war Mutter doch wohl kaum dabeigewesen, und sie hatte den Jungen ganz bestimmt nicht dazu aufgefordert. Genausogut hätten sie Mutter die Schuld für das geben können, was Sevet zugestoßen war, wo doch jeder sehen konnte, daß es Sevets eigene Schuld gewesen war. Außerdem … trug Vater nicht selbst die Schuld an seinem Tod? All diese Soldaten — man bringt doch nicht Soldaten nach Basilika und erwartet, daß es dann ohne Gewalt abgeht, oder? Die Männer verstanden so etwas einfach nicht. Sie konnten jederzeit einen Stein ins Rollen bringen, waren aber stets überrascht, wenn sie ihn dann nicht mehr mit eigener Kraft aufhalten konnten.
Wie Obring, der arme Narr. Hatte er nicht gewußt, daß es nicht besonders klug war, zwischen Schwestern zu treten? Ihm mußte man eigentlich mehr Schuld an Sevets Verletzung als Kokor geben.
Und warum hat niemand Mitgefühl für meine Verletzung? Für den tiefen psychologischen Schaden, der mir zugefügt wurde, als ich Obring und meine eigene Schwester im Bett überrascht habe! Niemand interessiert sich dafür, daß auch ich leide und daß es vielleicht eine gute Therapie wäre, des Nachts einmal vor die Tür zu gehen.
Kokor saß da und schminkte ihr Gesicht, übte sich in Nuancen, die sich bei ihrem nächsten Stück vielleicht ganz gut machen würden. Denn jetzt würde es mit Sicherheit ein nächstes Stück geben, sobald sie Mutters Haus erst einmal verlassen hatte. Tumannus kleiner Versuch, sie auf die schwarze Liste zu setzen, würde mit Sicherheit fehlschlagen — kein Komödienstadel in der Puppenstadt würde eine Schauspielerin abweisen, deren Name in ganz Basilika in aller Munde war. Allein wegen der Neugier der Leute würde die Bühne jeden Abend ausverkauft sein — und wenn sie erst ihre Schauspielerei gesehen und ihren Gesang gehört hatten, würden die Leute immer wiederkommen. Nicht, daß sie jemals die Absicht gehabt hatte, jemanden absichtlich zu verletzen, um ihre Karriere voranzubringen; doch da es nun einmal passiert war, konnte sie auch ihren Vorteil daraus ziehen. Tumannu würde wahrscheinlich ganz vorn in der Schlange der Bühnenbesitzer stehen, die Kokor bitten würden, eine Hauptrolle in einer Komödie zu übernehmen.