Während Mutter und Rasch den Streit fortsetzten, beugte sich Kokor zu Sevet hinüber und fragte sie, da sie vergessen hatte, daß ihre Schwester nicht sprechen konnte: »Weshalb will Raschgallivak uns überhaupt mitnehmen?«
Da Sevet nicht antworten konnte, sprang Huschidh ein. »Tante Rasa steht im Mittelpunkt des Widerstands gegen die Herrschaft der Palwaschantu in Basilika. Er glaubt, sie wird sich benehmen, wenn er euch beide als Geiseln hat.«
»Dann kennt er Mutter nicht«, sagte Kokor.
»Raschgallivak ist ein schwacher Mann«, flüsterte Huschidh. »Und dumm obendrein, was Politik betrifft. Wäre er so klug wie euer Vater, hätte er gewußt, daß er euch beide ohne Gewalt nicht mitnehmen kann und daß jede Gewalt zu seinem Nachteil gerät. Daher hätte er diese Forderung niemals erhoben. Doch da er sich schon aus irgendeinem Grund entschlossen hat, euch mitzunehmen, hätte er viel kühner vorgehen müssen. Je zwei Soldaten hätten euch schon packen müssen, während die beiden anderen eure Mutter in Schach halten.«
Huschidh war also doch keine Närrin. Es war Kokor nie in den Sinn gekommen, daß Huschidh irgendwelche Eigenschaften hatte, die Respekt verdienen könnten. Die Vorstellung, die sie von Vater hatte, traf genau zu — und doch hätte Kokor selbst sie niemals so deutlich ausdrücken können.
Natürlich hätte Vater auch irgendein Recht gehabt, sie und Sevet mitzunehmen. Kein legales Recht, natürlich, nicht in der Stadt der Frauen, doch die Leute hätten Verständnis für den Versuch gehabt. Aber welchen Anspruch hatte Raschgallivak? »Die Überseele muß Rasch in den Wahnsinn getrieben haben, es auch nur zu versuchen«, flüsterte Kokor.
»Er hat Angst«, sagte Huschidh. »Die Leute tun seltsame Dinge, wenn sie Angst haben. Das trifft auch auf eure Mutter zu.«
Zum Beispiel, mich hier wie in einem Gefängnis zu halten, dachte Kokor.
Dann wurde ihr klar, daß Rasch nicht die geringsten Schwierigkeiten gehabt hätte, an sie heranzukommen, wäre sie zu Hause bei Obring gewesen. Obring hätte versucht, den Soldaten Widerstand zu leisten, und sie hätten ihn sofort niedergeschlagen und Kokor verschleppt. Also hatte Mutter richtig gehandelt, sie hier in ihrem Haus zu halten. »Du darfst Mutter nicht kritisieren«, sagte Kokor. »Ich glaube, sie macht das sehr gut.«
Mittlerweile war der Streit zwischen Rasa und Rasch noch immer im Gange, doch nun wiederholten beide nur alte Argumente. Huschidh hatte die beiden zur Schwelle der Diele geführt, so daß sie sich von den Soldaten so weit wie möglich entfernt und trotzdem noch im selben Raum befanden. Bislang war Kokor bei ihr und Sevet geblieben. Der Anblick der Soldaten, die unter ihren holographischen Masken schrecklich identisch aussahen, hatte ihr die Entschlossenheit genommen, Raschgallivak zu zeigen, was sie von ihm hielt. In der Dunkelheit hinter der Bühne des Theaters hatte er viel kleiner und schwächer gewirkt. Die Soldaten ließen ihn viel bedrohlicher erscheinen, und Kokor stellte fest, daß sie Mutter dafür bewunderte, ihnen so entschieden die Stirn zu bieten. Gleichzeitig fragte sie sich, ob Mutter nicht ein wenig töricht war. Warum zum Beispiel hatte sie Kokor und Sevet hierher kommen lassen, obwohl die Soldaten hier einen viel leichteren Zugriff auf sie hatten? Warum hatte sie sie nicht oben versteckt? Oder sie frühzeitig gewarnt, damit sie sich in die Wälder schleichen konnten? Vielleicht hatte Huschidh das damit gemeint, als sie sagte, daß auch Mutter aus Furcht seltsame Dinge zu tun schien.
Und doch schien Mutter keine Angst zu haben.
»Vielleicht sollten wir jetzt besser gehen«, flüsterte Kokor Huschidh zu.
»Nein«, sagte Huschidh. »Ihr müßt bleiben.«
»Warum?«
»Wenn ihr einfach gehen würdet, würdet ihr Raschgallivak damit beunruhigen und ihn wahrscheinlich dazu provozieren, etwas zu unternehmen. Er würde den Soldaten befehlen, euch zu ergreifen, und alles wäre verloren.«
»Das wird er irgendwann sowieso tun«, flüsterte Kokor.
»Ja, aber wird er lange genug warten?«
»Lange genug wofür?«
»Denke nach«, sagte Huschidh.
Kokor dachte nach. Was würden sie durch eine bloße Verzögerung gewinnen?
Außer jemand eilte ihnen zu Hilfe. Aber wer würde es schon wagen, sich mit den Soldaten der Palwaschantu anzulegen?
»Die Stadtwache!« rief Kokor, erfreut, darauf gekommen zu sein.
Konnte sie etwas dafür, daß ihre Worte zufällig in ein Schweigen im Streit zwischen Mutter und Rasch fielen?
»Was?« rief Raschgallivak. »Was hast du gesagt?« Er wirbelte herum und sah zur Tür hinaus. »Da ist niemand«, sagte er. Dann sah er Rasa an. »Aber du hast sie rufen lassen, nicht wahr? Darum geht das also — du willst mich aufhalten, bis die Stadtwache hier ist und dich schützen kann. Aber damit ist es jetzt vorbei! Ergreift sie!«
Augenblicklich traten die Soldaten zu den Frauen auf der Schwelle, und Kokor schrie auf.
»Lauft, ihr kleinen Närrinnen!« rief Mutter.
Aber Kokor konnte nicht laufen, weil einer der Soldaten sie bereits am Arm gepackt hatte, und zwei andere Soldaten hatten auch Sevet ergriffen, und diese verdammte Huschidh tat nichts, um ihnen zu helfen.
»Tu doch etwas, du kleines Miststück!« schrie Kokor. »Laß nicht zu, daß er uns das antut!«
Als die Soldaten sie zur Tür zerrten, sah Huschidh ihr einen Moment lang in die Augen. Dann schien sie einen Entschluß zu fassen.
»Halt, Raschgallivak!« rief Huschidh. »Höre sofort damit auf!«
Rasch lachte nur. Der Klang ließ Kokor bis in die Knochen frösteln. Es war das Lachen eines Mannes, der wußte, daß er gewonnen hatte. Dieser mitleiderregende Mann, der noch vor ein paar Tagen Verwalter im Haus des Wetschik gewesen war, lachte nun vor Freude über die Macht, die seine Soldaten ihm gaben.
»Befehle ihnen, sofort aufzuhören!« rief Huschidh. »Oder du wirst nicht mehr imstande sein, ihnen noch etwas zu befehlen!«
»Nein, Huschidh!« rief Mutter.
Was in aller Welt erwartete Mutter? Was konnte Huschidh denn jetzt noch tun? Kokor sah Sevet im Griff der Soldaten, deren leere Gesichter so entsetzlich, so unmenschlich waren. Es war nicht richtig, daß ihre Schwester sich in deren Griff wand. Nicht richtig, daß diese Hände Kokors Arme festhielten und sie davonzerrten. »Tu es, Huschidh!« rief Kokor. Was auch immer du tun kannst, und wovor Mutter solche Angst zu haben scheint.
Für alle bis auf Huschidh sah die Szene ganz einfach aus — Rasch und zwei seiner Soldaten verhinderten, daß jemand sich einmischte, während vier andere Soldaten Kokor und Sevet durch die breite Tür von Rasas Haus zerrten. Tante Rasa selbst schrie, ohne damit etwas auszurichten — »Du verletzt Sevet! Man wird dich aus der Stadt verjagen! Entführer!« —, und andere Frauen und Mädchen des Hauses hatten sich zusammengefunden, drängten sich auf dem Gang, lauschten und beobachteten.
Für Huschidh, die Entwirrerin, sah die Szene jedoch ganz anders aus. Denn sie konnte nicht nur die Menschen sehen, sondern auch das Netzwerk, das sie verband. Für Huschidh waren die verängstigten Mädchen und Frauen keine Individuen — sie alle waren fest mit Rasa verbunden. Huschidh wußte also, daß sie keineswegs so hilflos und allein war, wie die anderen sie sahen, sondern mit der Kraft eines Dutzends Frauen sprach. Andererseits nährte deren Angst auch die ihre, deren Zorn den ihren, und wenn sie mit der Erhabenheit ihres Zorns schrie, war sie viel größer als nur eine einzelne Frau. Huschidh sah sogar das mächtige Netzwerk, das Rasa mit dem Rest der Stadt verband, große, seilartige Fäden, wie Arterien und Venen, die das Lebensblut von Rasas Identität pumpten. Als sie ihre Stimme gegen Raschgallivak erhob, lag der ganze Zorn der Stadt der Frauen darin.