»Nein, da kann ich mir vorstellen, daß du noch jahrelang warten mußt. Und man wird nicht automatisch dazu, nicht wahr?«
»Das alles kommt«, sagte Luet, »auf die Eigenschaft meiner Träume an.«
Schedemei lachte. »Und trifft das nicht auf uns alle zu?«
»Ich glaube schon«, sagte Luet lächelnd.
Schedemei wandte sich ab. Doch dann begriff sie erneut, mit wem sie gerade sprach. »Wasserseherin«, sagte sie. »Du mußt einiges über die Bedeutung von Träumen wissen.«
Luet schüttelte den Kopf. »Wenn du deine Träume deuten lassen willst, mußt du die Wahrsager auf dem Inneren Markt bezahlen.«
»Nein«, sagte Schedemei. »Diese Art von Träumen meine ich nicht. Oder diese Art von Bedeutung. Es war sehr seltsam. Ich erinnere mich nie an meine Träume. Aber diesmal kam er mir sehr … zwingend vor. Vielleicht sogar … vielleicht ein Traum, wie du ihn wohl hast.«
Luet neigte den Kopf und sah sie an. »Wenn dein Traum von der Überseele gekommen ist, Schedemei, muß ich ihn hören. Aber nicht hier.«
Schedemei folgte dem jüngeren Mädchen in den hinteren Teil des Hauses und eine Treppenflucht hinauf, von der Schedemei kaum wußte, daß es sie überhaupt gab, denn dieser Teil des Hauses wurde zur Lagerung alter Artefakte, Möbel und Unterrichtsmittel benutzt. Sie gingen zwei weitere Treppen hinauf und betraten eine heiße und dunkle Dachstube.
»Mein Traum war nicht so geheim, daß wir hierher gehen mußten, damit ich ihn dir erzählen kann«, sagte Schedemei.
»Du verstehst nicht«, sagte Luet. »Wenn der Traum wirklich von der Überseele kommt, muß noch jemand ihn hören.« Mit diesen Worten entfernte Luet ein Gitter von der Giebelwand und schlüpfte hindurch, in hellen Sonnenschein hinaus.
Zuerst konnte Schedemei, halb geblendet vom Licht, nicht erkennen, daß sich direkt unter der Wandöffnung ein flaches, verandaähnliches Dach befand. Sie dachte, Luet wäre ins Nichts hinausgetreten und würde in der Luft schweben. Dann gewöhnten sich ihre Augen an die Helligkeit, und blinzelnd erkannte sie, worauf Luet ging. Sie folgte ihr.
Das flache Vordach war von der Straße aus nicht zu sehen und auch nicht von den anderen Häusern aus. Ein halbes Dutzend unterschiedlich geneigte Schrägdächer trafen hier zusammen, und ein großes Abflußloch in der Mitte der Fläche verdeutlichte, warum es diese Vorrichtung gab. Bei einem schweren Wolkenbruch konnte es sich etwa bis zu einem Meter Höhe mit dem von den Dächern strömenden Wasser füllen, bis es dann endgültig abfloß. Es war eher ein Teich als eine Veranda.
Es war auch ein perfektes Versteck, da nicht einmal die Bewohner von Rasas Haus wußten, daß es dieses Vordach gab — abgesehen von Luet natürlich, und wer immer sich sonst noch hier versteckte.
Ihre Augen hatten sich nun vollends an die Helligkeit gewöhnt. Im Schatten einer Markise saß ein älteres Mädchen, das Luet so ähnlich sah, daß Schedemei nicht überrascht war, als es ihr als die Entwirrerin Huschidh vorgestellt wurde, Luets ältere Schwester. Und gegenüber von Huschidh, am anderen Ende eines niedrigen Tisches, saß ein junger Mann, großgewachsen, aber noch nicht alt genug, um sich rasieren zu müssen.
»Kennst du mich nicht, Schedemei?« fragte der Junge.
»Ich glaube, doch«, sagte sie.
»Ich war noch viel kleiner, als du zuletzt in Mutters Haus gewohnt hast«, sagte er.
»Nafai«, sagte sie. »Ich habe gehört, du wärest in die Wüste gegangen.«
»Und anscheinend zu oft zurückgekehrt, fürchte ich«, sagte Nafai. »Ich hätte niemals gedacht, den Tag zu erleben, da Gorajni-Soldaten die Tore Basilikas bewachen.«
»Nicht mehr lange«, sagte Schedemei.
»Mir ist keine Stadt bekannt, die die Gorajni wieder aufgegeben haben, nachdem sie sie einmal besetzt haben«, sagte Nafai.
»Aber sie haben Basilika nicht besetzt«, sagte Schedemei. »Sie haben uns nur in einer Zeit der Unruhen geholfen.«
»In der Wüste ist die Asche von Dutzenden und Aberdutzenden Lagerfeuern zu sehen«, sagte Nafai, »aber keine Anzeichen, daß jemand dort Lager aufgeschlagen hätte. Wie ich gehört habe, hat der Gorajni-Anführer so getan, als hätte er ein gewaltiges Heer, das von General Muuzh dem Ungeheuer geführt wurde, wohingegen er in Wirklichkeit doch nur tausend Mann hat.«
»Er hat uns erklärt, diese List wäre nötig gewesen, um die Palwaschantu-Söldner, die mordend durch die Stadt zogen, psychologisch zu überwältigen.«
»Oder, um die Stadtwache Basilikas psychologisch zu überwältigen?« sagte Nafai. »Aber gut. Luet hat dich hergebracht. Weißt du, warum?«
Luet unterbrach ihn sofort. »Nein, Nafai. Sie gehört nicht dazu. Sie kam von sich aus, um Mutter einen Traum zu erzählen. Dann kam sie auf den Gedanken, ihn mir zu erzählen, und ich wollte, daß ihr beide ihn hört, für den Fall, daß er von der Überseele kommt.«
»Warum er?« fragte Schedemei.
»Die Überseele spricht zu ihm, genau wie zu mir«, sagte Luet. »Er hat sie gezwungen, zu ihm zu sprechen, und jetzt sind die beiden Freunde.«
»Ein Mann hat die Überseele gezwungen, zu ihm zu sprechen?« fragte Schedemei. »Seit wann gibt es denn so etwas auf der Welt?«
»Erst seit kurzem«, sagte Luet lächelnd. »Es gibt seltsamere Dinge im Himmel und auf Erden, als deine Schulweisheit dir träumen läßt, Schedemei.«
Schedemei erwiderte das Lächeln, doch ihr fiel nicht ein, woher das Zitat kam oder wieso es in diesem Augenblick so amüsant sein sollte.
»Dein Traum«, sagte Luets Schwester Huschidh.
»Jetzt komme ich mir lächerlich vor«, sagte Schedemei. »Er ist es nicht wert, daß ich ihn vor einem so großen Publikum erzähle.«
Luet schüttelte den Kopf. »Und doch bist du den ganzen Weg von … wo wohnst du? Bei den Zisternen?«
»Bei den Quellen, aber nicht weit von diesem Stadtteil entfernt.«
»Du bist den ganzen Weg gekommen, um Tante Rasa den Traum zu erzählen«, sagte Luet. »Ich glaube, er könnte wichtiger sein, als sogar du es vermutest. Also erzähle uns den Traum bitte.«
Schedemei warf wieder einen Blick auf Nafai und stellte fest, daß sie kein Wort über die Lippen bringen konnte.
»Bitte«, sagte Nafai. »Ich werde deinen Traum nicht verspotten und ihn auch niemandem erzählen. Ich will ihn nur hören, weil Wahrheit in ihm liegen könnte.«
Schedemei lachte nervös. »Ich bin einfach … Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich in Gegenwart eines Mannes sprechen muß. Es ist nichts gegen dich persönlich. Als Tante Rasas Sohn vertraue ich dir natürlich, aber ich …«
»Er ist kein Mann«, sagte Luet. »Nicht in Wirklichkeit.«
»Danke«, murmelte Nafai.
»Er behandelt die Frauen nicht, wie Männer es normalerweise tun. Und vor nicht allzu vielen Tagen hat die Überseele mir befohlen, ihn zum See mitzunehmen. Er schwebte darauf, trieb mit mir dahin. Die Überseele hat es befohlen, und er wurde nicht getötet.«
Schedemei betrachtete ihn mit neuer Ehrfurcht. »Ist das die Zeit, da alle Prophezeiungen zusammenkommen?«
»Erzähle uns deinen Traum«, sagte Huschidh leise.
»Ich habe geträumt — es klingt so lächerlich! —, daß ich einen Garten in den Wolken anlegte. Nicht nur die Pflanzen und Tiere, mit denen ich arbeite, sondern jede Pflanze und jedes Tier, von dem ich je gehört habe. Aber es war kein großer Garten, sondern ein ganz kleiner. Und trotzdem bot er allen Tieren und Pflanzen Platz, und sie wuchsen und gediehen. Ich trieb in den Wolken — eine Ewigkeit, schien es. Durch die längste Nacht der Welt, eine Nacht von tausend Jahren. Und dann war es plötzlich wieder taghell, und ich konnte den Rand der Wolke hinabsehen und ein neues Land ausmachen, ein grünes und wunderschönes Land, und ich sagte mir — im Traum natürlich —, diese Welt bedarf meines Gartens gar nicht. Also verließ ich den Garten und trat von der Wolke …«