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Doch die Überseele war noch nicht mit ihr fertig, und so konnte sie noch keinen Frieden finden. Als sie — nach ihrem besten Wissen — erst vierzehn Jahre alt war, hatte sie einen Traum von einem Ort, der gebirgig war und doch so wuchernd vor Leben, daß selbst die steilsten Klippen noch mit üppigem Grün bedeckt waren. In ihrer Vision sah sie einen Mann, und die Überseele sagte ihr, er sei ihr wahrer Gatte. Sie gab nichts um diese Information — sie sah nur, daß dieser Mann Nahrung in der Hand hielt und daß zu seinen Füßen ein Bach floß. Also wanderte sie nach Norden, bis sie das grüne Land und den Bach fand. Sie wusch sich und trank und trank und trank. Und dann, eines Tages, als sie sauber und zufrieden war, sah sie, daß er sein Pferd zum Wasser führte.

Sie wäre beinah davongelaufen. Sie wäre fast vor dem Willen der Überseele geflohen, denn sie wollte jetzt keinen Gatten, und am Ufer des Baches gab es genug Beeren, daß sie nichts begehrte, was er ihr anzubieten hatte.

Doch er sah sie und starrte sie an. Sie bedeckte ihre Brüste mit den Händen, da sie verschwommen wußte, daß die Männer dies begehrten, daß sie dies betrachteten; sie hatte keine Erfahrung mit Männern, denn die Überseele hatte sie bislang vor Wüstenwanderern geschützt.

»Gott verbietet mir, dich zu berühren«, sagte er leise. Er sprach die Sprache Basilikas, doch mit einem Akzent, der sich sehr von dem unterschied, den man in Seggidugu sprach.

»Das ist eine Lüge«, sagte sie. »Die Überseele hat mich zu deiner Frau gemacht.«

»Ich habe keine Frau«, erwiderte er. »Und wenn ich eine hätte, würde ich kein winziges Kind wie dich nehmen.«

»Gut«, sagte sie. »Denn ich will dich auch nicht. Soll die Überseele eine alte Frau für dich suchen, wenn sie dir eine Gattin besorgen will.«

Er lachte. »Dann sind wir einer Meinung. Du hast nichts von mir zu befürchten.«

Er nahm sie mit nach Hause, kleidete sie ein und gab ihr zu essen, und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie glücklich. Nach einem Monat hatte sie sich in ihn verliebt und er sich in sie, und er nahm sie, wie ein Mann eine Frau nimmt, doch ohne Zeremonie. Seltsam war jedoch, daß sie davon überzeugt war, die Überseele verlange von ihm, sie zu heiraten, während er davon überzeugt war, lediglich dem Willen Gottes zu trotzen, indem er sie in sein Bett holte. »Ich werde Gott trotzen, wo ich nur kann«, sagte er. »Aber ich hätte dich niemals gegen deinen Willen genommen, auch nicht, um meinem Feind zu trotzen.«

»Dann ist Gott dein Feind?« flüsterte sie.

Einen Monat lang waren sie zusammen. Dann kam der Wahnsinn über sie, und sie floh in die Wüste.

Es geschah erneut, mehrere Jahre später, doch diesmal warteten sie keinen Monat lang, und sie fand ihn auch nicht in seinem Heimatland, sondern in einem ziemlich kalten fremden Land, mit Kiefern und einer Spur von Schnee auf dem Boden, und diesmal gab es keinen Monat der Keuschheit, bevor sie als Mann und Frau zusammenlagen. Und erneut wurde sie nach einem Monat gott-verrückt und floh in die Wüste.

Beide Male empfing sie ein Kind. Beide Male sehnte sie sich danach, ihm seine Tochter zu bringen und das Baby zu seinen Füßen zu legen und ihre Rechte als Gattin zu beanspruchen. Doch die Überseele verbat es, und statt dessen brachte sie das Baby in die Stadt der Frauen, nach Basilika, in das Haus, das die Überseele ihr in einem Traum gezeigt hatte, und beide Male legte sie das Kind in die Arme einer Frau, die die Überseele fürwahr liebte.

Durstig beneidete diese Frau so sehr, denn wenn einem die Liebe der Überseele gehört, bekommt man ein Haus und Freiheit und Glück, und man ist von Töchtern und Freunden umgeben. Doch Durstig hatte nur den Haß der Überseele, und so lebte sie allein in der Wüste.

Bis vor zehn Jahren der Wahn sie dann endgültig verließ — zumindest glaubte sie das. Sie verließ die Wüste und ging ins Land Potokgavan, wo freundliche Fremde sie aufnahmen. Sie war nicht schön oder begehrenswert, doch auf seltsame Art und Weise eindrucksvoll, und ein guter, einfacher Bauer mit einem stattlichen Haus, das auf dicken Stelzen stand, bat sie, seine Frau zu werden. Sie willigte ein, und sie hatten sieben Kinder zusammen.

Aber sie konnte nie ihre Zeit als heilige Frau vergessen, als die Überseele sie haßte, und sie vergaß nie die beiden Töchter, die sie dem Fremden geschenkt hatte, der der Gatte war, den die Überseele ihr gegeben hatte. Die ältere Tochter hatte sie Huschidh genannt, was auch der Name einer Wüstenblume war, die süß roch, aber auch oft die Larven der giftigen Säbelfliege barg. Die jüngere Tochter hatte sie Luet genannt, nach der Ljuti-Pflanze, deren Blätter nach oben gerichtet waren und die eingeweicht den heiligen Tee ergaben, der den Frauen, die die Überseele verehrten, manchmal half, in Trance zu fallen und ihnen wahre Visionen zu geben. Sie dachte immer an ihre Töchter und betete jeden Morgen für sie, obwohl sie weder ihrem Mann noch ihren Kindern von den beiden Töchtern erzählte, die sie in die Hände einer anderen Frau hatte legen müssen.

Dann, eines Nachts, träumte sie erneut einen gott-verrückten Traum. Sie sah sich wieder in der Gegenwart des Gatten, den die Überseele ihr gegeben hatte, des Vaters ihrer ersten beiden Töchter. Doch nun war er älter, und sein Gesicht war schrecklich und traurig. In dem Traum ließ er seine beiden Töchter knien, die jüngere neben ihm, die ältere vor ihm, und Durstig sah, wie sie zu ihm ging, ihn an der Hand nahm und sagte: »Gatte, werde ich nun, da du Anspruch auf deine Töchter erhoben hast, vor den Augen der Menschen als auch vor der der Überseele deine Gattin sein?«

Sie haßte diesen Traum. Haßte ihn zutiefst, denn er verleugnete den Gatten, den sie jetzt hatte, und setzte die Kinder zurück, die sie mit ihm hatte. Warum hast du mich freigelassen, damit ich dieses Leben in Potokgavan führe, o grausame Überseele, falls du mich von vornherein von “ihnen fortreißen wolltest? Und wenn du wolltest, daß ich bei meinen beiden ersten Töchtern bleibe, hättest du mich von vornherein bei ihnen lassen können. Du bist zu grausam zu mir, Überseele! Ich werde dir nicht gehorchen!

Doch jede Nacht träumte sie denselben Traum. Erneut und erneut, die ganze Nacht lang, bis sie glaubte, sie würde verrückt werden. Aber sie wurde nicht verrückt.

Dann, eines Morgens, am Ende derselben unaufhörlichen Vision, kam etwas Neues in ihren Traum. Ein süßer, hoher, scharfer Ton. Und in ihrem Traum schaute sie sich um und sah ein Pelzwesen durch die Luft fliegen, und sie wußte, daß der süße, hohe Ton der Gesang dieses Engels war. Der Engel kam in dem Traum zu ihr, landete, auf ihrer Schulter und klammerte sich an sie, hüllte seine ledrigen Schwingen um sie, und sein Gesang klang in ihrem Ohr durchdringend und strahlend.

»Was soll ich tun, süßer Engel?« fragte sie ihn in dem Traum.

Zur Antwort warf sich der Engel vor ihr zu Boden und lag dort im Staub. Und als er dort lag, hilflos und bloßgestellt, die Schwingen nutzlos und verletzbar und schlaff, kamen Wesen, bei denen es sich von ihrer Größe her zuerst um Paviane zu handeln schien, doch dann erkannte sie sie an ihren Zähnen und Augen und Schnauzen als Ratten. Sie kamen zu dem Engel und rochen an ihm, und als er sich nicht bewegte oder davonflog, begannen sie an ihm zu nagen. Oh, es war wirklich schrecklich, und die ganze Zeit über betrachteten seine Augen Durstig mit einem furchtbar traurigen Blick.

Ich muß ihn retten, dachte Durstig. Ich muß diese schrecklichen Feinde verscheuchen. Doch in dem Traum konnte sie ihn nicht retten. Sie konnte sich überhaupt nicht bewegen.

Als die Pelzkreaturen schließlich abzogen, war der Engel nicht tot. Doch sie hatten ihm die Schwingen abgenagt, und an ihrer Stelle saßen nur zwei spindeldürre, zerbrechliche Arme, und kaum ein Hautbesatz unter ihnen deutete an, wo einst die Schwingen gewesen waren. Dann kniete sie neben ihm, nahm ihn in ihre Arme und weinte um ihn. Weinte und weinte und weinte.