Einen Augenblick lang blitzte in Kokor Wut auf, so heiß wie ein Schmelzofen. Doch sie hielt sie augenblicklich im Zaum, beherrschte sie perfekt. Sie durfte solch eine Flamme niemals offen brennen lassen. Man konnte unmöglich voraussagen, was sie tun oder sagen würde, wenn sie in solch einem Augenblick die Beherrschung verlor.
»Ich muß Sevet suchen«, sagte Kokor.
»Nein«, sagte Raschgallivak. Vielleicht hatte er mehr sagen wollen, doch in diesem Augenblick legte er eine Hand auf Kokors Arm, um sie zu mäßigen, und natürlich trat sie ihm kräftig zwischen die Beine, wie alle Komödiantinnen es lernen, um sich gegen unwillkommene Bewunderer zu schützen, die zu aufdringlich werden. Es war ein Reflex. Sie hatte es eigentlich gar nicht tun wollen. Und erst recht nicht mit solcher Heftigkeit. Er war nicht besonders stark gebaut, und der Tritt haute ihn glatt um.
»Ich muß Sevet suchen«, sagte Kokor wie zur Erklärung. Er hörte sie wahrscheinlich gar nicht. Er stöhnte viel zu laut, während er sich auf dem Holzboden hinter der Bühne wälzte.
»Wo ist die Zweitbesetzung?« sagte Tumannu. »Dem armen kleinen Ding bleiben nicht mal drei Minuten zur Vorbereitung.«
»Tut es weh?« fragte Gulja Raschgallivak. »Ich meine, was ist Schmerz, wenn man wirklich darüber nachdenkt?«
Kokor wanderte in die Dunkelheit davon, in Richtung Dauberville. Ihr Schenkel pochte dicht über dem Knie, wo sie es so kräftig in Raschgallivaks Schritt gestoßen hatte. Wahrscheinlich würde sie dort einen blauen Fleck bekommen, und dann mußte sie undurchsichtige Strümpfe tragen. So ein Ärgernis.
Vater ist tot. Ich muß es Sevet sagen. Hoffentlich findet niemand sie vor mir. Und er wurde ermordet. Die Leute werden jahrelang davon sprechen. Ich werde im Trauerweiß ziemlich gut aussehen. Arme Sevet — wenn sie Weiß trägt, sieht ihre Haut immer aus wie rote Bete. Aber sie wird es nicht wagen, die Trauerkleidung vor mir abzulegen. Und vielleicht trauere ich jahrelang um Papa.
Kokor lachte und lachte vor sich hin, während sie durch die Dunkelheit ging.
Und dann wurde ihr klar, daß sie gar nicht lachte, sondern weinte. Warum weine ich? fragte sie sich. Weil Vater tot ist. Das muß es sein, darum dreht sich dieser ganze Aufruhr. Vater, armer Vater. Ich muß ihn geliebt haben, denn ich weine jetzt, ohne es zu wollen, und dabei sieht überhaupt keiner zu. Wer hätte schon ahnen können, daß ich ihn geliebt habe?
»Wach auf.« Es war ein eindringliches Flüstern. »Tante Rasa will uns sprechen. Wach auf!«
Luet verstand nicht, warum Huschidh dies sagte. »Ich habe gar nicht geschlafen«, murmelte sie.
»O doch, du hast geschlafen«, sagte ihre Schwester Huschidh. »Du hast geschnarcht.«
Luet setzte sich auf. »Ich habe bestimmt gesägt wie ein Zimmermann.«
»Geblökt wie ein Esel«, sagte Huschidh, »doch meine Liebe für dich hat das Geräusch in Musik verwandelt.«
»Deshalb schnarche ich«, sagte Luet. »Damit du des Nachts Musik hören kannst.« Sie griff nach ihrem Hauskleid und zog es über den Kopf.
»Tanta Rasa möchte uns sprechen«, drängte Huschidh. »Komm schnell.« Sie glitt aus dem Zimmer, bewegte sich in einer Art Tanz, und ihr Gewand schwebte hinter ihr her. In Schuhen oder Sandalen wirkte Huschidh immer schwerfällig, doch barfüßig bewegte sie sich wie eine Frau in einem Traum, wie eine Baumwoll-Flaumflocke im Wind.
Luet folgte ihrer Schwester auf den Gang; sie war noch damit beschäftigt, das Hauskleid zuzuknöpfen. Was konnte passiert sein, daß Rasa mit ihr und Huschidh sprechen wollte? Bei all den Scherereien, zu denen es in letzter Zeit gekommen war, befürchtete Luet das Schlimmste. War es möglich, daß Rasas Sohn Nafai doch nicht aus der Stadt entkommen war? Erst gestern hatte Luet ihn über verbotene Pfade geführt, zum See hinab, den nur Frauen sehen durften. Denn die Überseele hatte ihr gesagt, daß Nafai ihn sehen müsse, auf ihm treiben müsse wie eine Frau, wie eine Wasserseherin — wie Luet selbst. Also hatte sie ihn dorthin gebracht, und er war wegen seiner Blasphemie nicht erschlagen worden. Dann hatte sie ihn durch das Privattor und den Pfadlosen Wald aus der Stadt geführt. Sie hatte geglaubt, er sei in Sicherheit. Aber natürlich war er nicht in Sicherheit. Denn Nafai war wohl kaum einfach in die Wüste zurückgekehrt, zum Zelt seines Vaters — nicht ohne das Ding, das zu holen sein Vater ihn geschickt hatte.
Tante Rasa wartete in ihrem Zimmer, aber sie war nicht allein. Ein Soldat war bei ihn. Keiner von Gaballufix’ Männern — von seinen Söldnern, seinen Schlägern, die vorgaben, die Miliz der Familie Palwaschantu zu sein. Nein, dieser Soldat war einer der Stadtwachen, ein Torwächter.
Sie sah ihn jedoch kaum an, warf nur einen kurzen Blick auf seine Insignien, denn Rasa wirkte so … nein, eigentlich nicht erschreckt. So eine Regung hatte Luet bei ihr noch nie gesehen. Ihre Augen waren groß und trüb vor Tränen, ihr Gesicht war nicht fest, sondern schlaff, erschöpft, als geschähen in ihrem Herzen Dinge, die ihr Antlitz nicht ausdrücken konnte.
»Gaballufix ist tot«, sagte Rasa.
Das erklärte vieles. Gaballufix war seit einigen Monaten ihr Feind; seine bezahlten Tolschocks terrorisierten die Menschen auf den Straßen, und seine maskierten und anonymen Soldaten hatten sie noch mehr verängstigt, als sie angeblich die Straßen Basilikas für die Bürger der Stadt >sicher< machten. Doch obwohl er ihr Feind war, war er auch Rasas Gatte gewesen und der Vater ihrer beiden Töchter Sevet und Kokor. Sie hatten sich einmal geliebt, und Familienbande waren nicht so leicht zu durchtrennen, nicht für eine so aufrichtige Frau wie Rasa. Luet war im Gegensatz zu ihrer Schwester Huschidh keine Entwirrerin, wußte jedoch, daß Rasa noch immer mit Gaballufix verbunden war, obwohl sie alles, was er in letzter Zeit getan hatte, verabscheute.
»Seine Witwe tut mir leid«, sagte Luet, »doch für die Stadt freue ich mich.« , Huschidh hingegen betrachtete nachdenklich den Soldaten. »Ich glaube, dieser Mann hat dir nicht diese Nachricht überbracht.«
»Nein«, sagte Rasa. »Nein, ich habe von Raschgallivak von Gaballufix’ Tod erfahren. Anscheinend wurde Raschgallivak zum … neuen Wetschik ernannt.«
Luet wußte, daß dies ein verheerender Schlag war. Es bedeutete, daß Rasas Gatte Volemak, der früher Wetschik gewesen war, nun keinen Besitz, keine Rechte, keinen Rang mehr im Klan der Palwaschantu hatte. Und Raschgallivak, der sein von ihm geschätzter Verwalter gewesen war, hatte nun seine Stellung übernommen. Gab es auf dieser Welt keine Ehre mehr? »Wann wurde Raschgallivak diese Ehre zuteil?«
»Vor Gaballufix’ Tod — Gab hat ihn natürlich ernannt, und ich bin überzeugt, daß er es gern getan hat. Es liegt also eine gewisse Gerechtigkeit in der Tatsache, daß Rasch nun auch die Führung des Palwaschantu-Klans und damit Gabs Rang übernommen hat. Ja, du hast also recht damit, daß Rasch ziemlich schnell aufsteigt. Während andere fallen. Auch Roptat ist heute nacht umgekommen.«
»Nein«, flüsterte Huschidh.
Roptat war Anführer der Pro-Gorajni-Partei gewesen, der Gruppe, die versucht hatte, Basilika aus dem bevorstehenden Krieg zwischen Gorajni und Potokgavan herauszuhalten. Welche Chance blieb dem Frieden noch, nachdem er tot war?
»Ja, beide sind in dieser Nacht gestorben«, sagte Rasa. »Die Anführer der beiden Parteien, die unsere Stadt auseinandergerissen haben. Aber das Schlimmste kommt noch. Die Gerüchte besagen, daß mein Sohn Nafai sie beide getötet hat.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Luet. »Unmöglich.«
»Das dachte ich auch«, sagte Rasa. »Wegen dieser Gerüchte habe ich euch nicht wecken lassen.«
Nun verstand Luet vollends den Aufruhr in Tanta Rasas Gesicht. Nafai war Tante Rasas ganzer Stolz, ein brillanter junger Mann. Und mehr noch — denn Luet wußte sehr genau, daß Nafai auch der Überseele nahe stand. Was mit ihm geschah, war nicht nur wichtig für die, die ihn liebten, sondern auch wichtig für die Stadt, vielleicht sogar für die ganze Welt. »Dann weiß dieser Soldat also etwas über Nafai?«