Sevet gab ein ersticktes Lachen von sich.
»Wenn ich du wäre, würde ich nicht prahlen, wie zivilisiert dein Haus ist«, sagte Rasa. »Aber ich sehe auch, daß Elemak der einzige ist, der eure wahre Lage begreift.«
»Ich begreife sie auch.«
Natürlich funkelte Elemak seinen Halbbruder unter zusammengekniffenen Lidern an. Nafai, du törichter Junge, dachte Rasa. Mußt du immer das sagen, was deine Brüder am stärksten erzürnen wird? Glaubst du, ich hätte vergessen, daß du die Stimme der Überseele gehört hast, daß du viel mehr begreifst als deine Brüder und Schwestern? Kannst du nicht darauf vertrauen, daß ich mich an deine Würdigkeit erinnere und einfach Schweigen bewahren?
Nein, er konnte es nicht. Nafai war jung, zu jung, um die Folgen seines Vorgehens zu sehen, zu jung, um seine Gefühle für sich zu behalten.
»Dennoch wird Elemak uns unsere Lage erklären.«
»Wir können nicht in dieser Stadt bleiben«, sagte Elemak. »In dem Augenblick, in dem die Soldaten abgezogen werden, müssen wir sofort fliehen.«
»Warum?« fragte Mebbekew. »Die Herrin Rasa steckt in Schwierigkeiten, nicht wir.«
»Bei der Überseele, du bist dumm«, sagte Elemak.
Welche erfrischend direkte Art, es auszudrücken, dachte Rasa. Kein Wunder, daß deine Brüder dich geradezu verehren, Elja.
»Solange Herrin Rasa unter Arrest steht, muß Muuzh dafür sorgen, daß niemandem in diesem Haus etwas zustößt. Doch er wird es so einrichten, daß Rasa danach jede Menge Feinde in der Stadt haben wird. Sobald er seine Soldaten abzieht, wird es hier zu einigen sehr bösen Vorfällen kommen.«
»Um so mehr Grund für uns, Mutters Haus zu verlassen«, sagte Kokor. »Mutter kann ja fliehen, wenn sie will, aber gegen mich haben die Leute nichts.«
»Sie haben etwas gegen uns alle«, sagte Elemak. »Meb und Nafai und ich sind Flüchtlinge, und Nafai wird zweier Morde beschuldigt, von denen er einen tatsächlich begangen hat. Kokor wird des Mordversuchs an ihrer eigenen Schwester beschuldigt. Und Sevet ist eine Ehebrecherin, die man in flagranti erwischt hat, und da sie die Ehe auch noch mit dem Gatten ihrer eigenen Schwester gebrochen hat, kann man auch noch die Inzestgesetze hinzuziehen.«
»Sie würden es nicht wagen«, sagte Kokor. »Mich anzuklagen!«
»Und warum sollten sie es nicht wagen?« fragte Elemak. »Nur der große Respekt und die Zuneigung der Leute für die Herrin Rasa hat dich überhaupt vor einer sofortigen Verhaftung geschützt. Nun, diese Zuneigung besteht nicht mehr oder ist zumindest geringer geworden.«
»Man würde mich niemals verurteilen«, sagte Kokor.
»Und die Gesetze gegen Ehebruch sind seit Jahrhunderten nicht mehr durchgesetzt worden«, sagte Meb. »Und die Leute bringen einem Inzest zwischen verschwägerten Personen Abscheu entgegen, doch solange sie volljährig sind …«
»Sind denn hier alle dümmer, als die Stadtwache erlaubt?« fragte Elemak. »Nein, ich habe ja ganz vergessen — Nafai versteht alles.«
»Nein«, sagte Nafai, »Ich weiß, daß wir in die Wüste gehen müssen, weil die Überseele es befohlen hat, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.«
Rasa mußte unwillkürlich lächeln. Nafai konnte manchmal töricht sein, doch seine Ehrlichkeit und Direktheit waren auch entwaffnend. Ohne es zu wollen, hatte Nafai sich bei Elemak wieder beliebt gemacht, indem er sich erniedrigt und Eljas größere Klugheit eingestanden hatte.
»Dann werde ich es erklären«, sagte Elemak. »Die Herrin Rasa ist eine mächtige Frau — selbst jetzt noch, weil die klügsten Menschen in Basilika die Gerüchte über sie keinen Augenblick lang glauben. Es genügt Muuzh nicht, sie nur in Mißkredit zu bringen. Er muß sie entweder vollständig unter seiner Kontrolle haben oder töten. Um das erstere zu erreichen, muß er nur eins oder alle ihrer Kinder wegen Mordes anklagen lassen — oder auch Vaters Söhne, was das betrifft —, und sie wird völlig hilflos sein. Herrin Rasa ist eine tapfere Frau, aber ich glaube nicht, daß sie es über sich bringen wird, ihre Kinder oder Vaters Söhne ins Gefängnis gehen zu lassen, nur damit sie Politik betreiben kann. Und falls sie so skrupellos wäre, würde Muuzh den Einsatz einfach erhöhen. Wen von uns würde er zuerst töten? Muuzh ist ein kluger Mann — er würde nur soviel unternehmen, daß seine Botschaft auch verstanden wird. Ich glaube, als ersten würde er dich töten lassen, Meb, weil du der wertloseste bist und derjenige, den Vater und Herrin Rasa am wenigsten vermissen würden.«
Meb sprang auf. »Ich habe genug von dir, du Dreckskerl!«
»Setz dich, Mebbekew«, sagte Herrin Rasa. »Begreifst du denn nicht, daß er dich nur etwas anstacheln möchte?«
Elemak grinste Mebbekew an, der aber keineswegs besänftigt war. Mebbekew warf düstere Blicke um sich, als er sich wieder setzte.
»Irgendeinen wird er töten«, sagte Elemak, »nur als Warnung. Natürlich werden nicht seine Soldaten die Tat begehen. Aber er weiß genau, daß Herrin Rasa seine Rolle in diesem Spiel durchschaut. Und sollte es nicht ausreichen, uns als Geiseln zu halten, damit wir uns gut benehmen, hat Muuzh bereits den Grundstein dafür gelegt, Herrin Rasa selbst zu ermorden. Es dürfte kein Problem sein, eine erzürnte Bürgerin zu finden, die versessen darauf ist, sie wegen ihres angeblichen Verrats zu töten; Muuzh müßte nur eine Gelegenheit einrichten, bei der diese Attentäterin zuschlagen kann. Es wäre ganz einfach. Sobald die Soldaten von der Straße vor diesem Haus abgezogen werden, sind wir wirklich in Gefahr. Wir müssen uns also darauf vorbereiten, Basilika augenblicklich, verstohlen und für immer zu verlassen.«
»Basilika zu verlassen!« rief Kokor. Ihr ehrlicher Abscheu bedeutete, daß sie endlich den Ernst ihrer Lage begriffen hatte.
Sevet verstand ihn auch, soviel war sicher. Sie schaute zu Boden, doch Rasa konnte die Tränen auf ihren Wangen sehen.
»Es tut mir leid, daß eure enge Verbindung zu mir euch so viel kostet«, sagte Rasa. »Aber all diese Jahre lang, meine lieben Töchter, mein lieber Sohn, meine geliebten Schülerinnen, habt ihr vom Ansehen meines Hauses profitiert, wie auch von der großen Ehre des Wetschik. Nun, da sich die Lage in Basilika gegen uns gewendet hat, müßt ihr auch den Preis dafür zahlen. Das ist unangenehm, aber nicht ungerecht.«
»Für immer«, murmelte Kokor.
»Allerdings«, sagte Elemak, »für immer. Aber ich werde nicht ohne meine Frau in die Wüste ziehen. Ich hoffe, meine Brüder haben ebenfalls ähnliche Vorkehrungen getroffen. Aus diesem Grund sind wir ja hergekommen.«
»Obring«, sagte Kokor. »Wir müssen Obring holen!«
Sevet hob das Kinn und sah ihrer Mutter ins Gesicht. Sevets Augen schimmerten vor Tränen, und auf ihrem Antlitz stand eine ängstliche Frage.
»Ich glaube, Vas wird dich begleiten, wenn du ihn darum bittest«, sagte Rasa. »Er ist ein kluger und versöhnlicher Mann, und er liebt dich viel mehr, als du es verdient hast.« Die Worte waren kalt, doch Sevet nahm sie dennoch als Trost auf.
»Aber was ist mit Obring?« beharrte Kokor.
»Er ist ein so schwacher Mann«, sagte Rasa. »Du kannst ihn bestimmt überreden, dich zu begleiten.«
Mittlerweile hatte sich Mebbekew an Elemak gewandt. »Deine Frau?« fragte er.
»Herrin Rasa wird heute abend die Zeremonie für Eiadh und mich durchführen«, sagte Elemak.
Mebbekews Gesicht legte Zeugnis von einem starken Gefühl ab — Wut, Eifersucht? Hatte auch Mebbekew Eiadh haben wollen, genau wie der arme Nafai?
»Du heiratest sie heute abend!« fragte Mebbekew.
»Wir wissen nicht, wann Muuzh den Hausarrest aufheben wird, und ich möchte den Bund der Ehe schließen, wie es sich gehört. Sobald wir in der Wüste sind, möchte ich keine Diskussionen darüber hören, wer mit wem verheiratet ist.«